"Das Kapital ist ein Klassiker mit trauriger Aktualität", war gestern in einem Gastbeitrag der NZZ zu lesen. Marx wäre von den heutigen Krisenerscheinungen kaum überrascht gewesen, schreibt der Autor Christoph Henning, "weder vom Phänomen der Working Poor, von der Zunahme an Depressionen durch Überarbeitung, der Erosion des Zusammenlebens und des Klimas noch von den verheerenden Wirtschaftskrisen." Und wenn Marx also doch recht hatte mit seinen Krisentheorien, dann vielleicht auch mit seinen Lösungen?
Erstmals ist mir Marx nicht in seinen Schriften begegnet, sondern in seinen Auswirkungen, und zwar in Form eines Cocktail-Schirmchens. Ein solches schmückte den Fruchtdrink, den eine entfernte Verwandte bei einem Besuch bei uns in der Schweiz bestellt hatte. Mit kindlicher Neugierde beobachtete ich sie fasziniert, wie sie das Schirmchen sorgfältig abwischte und einpackte. "So etwas haben wir nicht bei uns", sagte sie, und meinte die damals noch bestehende DDR. Es war mein erster Kontakt mit einer Mangelwirtschaft.
Die Faszination der Intellektuellen für Marx wird uns weiterhin begleiten wie Jugendliche, die nicht von T-Shirts mit dem Konterfei von Che Guevara lassen wollen. Während letzteres mit jugendlichem Überschwang erklärbar wird, bleibt ersteres für mich unverständlich. Wie kann ein Mann, der fern von Fabriken zeitlebens nicht richtig für seine Familie sorgen konnte, und der vor allem von zwei Erbschaften und der Leibrente eines Fabrikantensohns lebte, das wirtschaftliche Denken so vieler Menschen prägen? Fast scheint, je spektakulärer manche Ideen scheitern, desto länger leben sie fort.
St.Gallen, 15. September 2017