"Die Internet-Revolution erfasst auch die Anwaltsbranche", schrieb Eugen Stamm letzten Dienstag in der NZZ. Angesprochen ist das verstärkte Aufkommen von "Legal Tech", analog zu "FinTech" also die Transformation von Rechtsberatung und Streiterledigung durch informations- und kommunikationstechnische Lösungen. Eugen Stamm vermutet, dass neue Technologien wohl auch zu neuen Geschäftsmodellen in der Rechtsbranche führen werden, sowie zu mehr Automatisierung und Effizienz. Wenn Eugen Stamm das Wort "erfasst" braucht, so liegt er sicher richtig, denn das Wort drückt Passivität aus. Die technologiegetriebenen Innovationen entstehen nicht in der Anwaltsbranche, sondern werden von aussen an diese herangetragen. Diese Behäbigkeit ist gefährlich.
Informations- und Kommunikationstechnologien verändern heute viele Bereiche der Old Economy. Offenkundig erfassen diese Veränderungen nicht nur die Effizienz von etablierten Geschäftsprozessen (Automatisierung), sondern heben die Produkte und Dienstleistungen auf ein gänzlich neues Qualitätsniveau. In diesem Sinne kann es leicht passieren, dass die informationstechnische Lösung wichtiger wird als die eigentliche Dienstleistung - und diese dann entsprechend als Kernprozess verdrängt. Blickt man etwa auf Medgate, den nach eigenen Angaben führenden Anbieter telemedizinischer Dienstleistungen in der Schweiz, so wird diese Firma massgeblich durch ICT-Firmen getragen, mit den Ärzten als Angestellte.
Eine Anwaltschaft, die sich neuen technologischen Entwicklungen verschliesst, könnte sich auch bald in einer zudienenden Rolle wiederfinden. So hat der Schweizerische Beobachter (Ringier Axel Springer Schweiz AG) mit "guider" schon eine digitale Rechtsberatungsplattform geschaffen, die digitale Produkte mit persönlicher juristischer Beratung kombiniert. In einer Welt, in der - selbst für Juristen - Google erste Anlaufstelle für die Lösung von Rechtsproblemen bildet, werden sich nur wenige Anwälte als unabhängige Dienstleister halten können: Nicht diejenigen, die nur Informationen sammeln und aufbereiten können, sondern vor allem diejenigen, die diese Informationen auch einordnen, vernetzen und auf kreative Weise neu anwenden können.
St.Gallen, 19. August 2016