Nachdem das Schweizer Volk und die Stände schon vor fast einem Jahr mit deutlichen Mehrheiten Ja gesagt haben zu einem neuen Verfassungsartikel über die Fortpflanzungsmedizin, werden wir von den Gegner dieser medizinischen Verfahren nochmals an die Urne bemüht. Dabei war das Ausführungsgesetz, über das wir nun abstimmen, damals schon in allen Details bekannt. Mit ihrer Kampagne "Nach Gentech-Mais bald Gentech-Mensch?" betreiben die Gegner billigste Polemik. Die Gegner beschwören (wiederum) die Gefahr einer Selektion von "wertvollem" und "minderwertigem" Leben. Die Vorwürfe sind weit hergeholt und richten den Blick auf die moralisch-ethische Dimension des Änderungsvorschlags. Wie ich schon letztes Jahr ausgeführt habe, ist nach meiner Auffassung nur ein Ja zum Gesetz ethisch vertretbar:
Ethische Anliegen können über den "Schutz der Menschenwürde" in das Recht eingebunden werden: Neben der Fortpflanzungsmedizin (Art. 119) sind entsprechende Verweise auch bei der Forschung am Menschen (Art. 118b), bei der Transplantationsmedizin (Art. 119a) und bei der Gentechnologie im Ausserhumanbereich (Art. 120) zu finden. Was die "Würde des Menschen" konkret ausmacht und was die Ethik von der Gesetzgebung verlangt, ist jedoch in all diesen Bereichen völlig unklar. Die Lehre vom moralisch korrekten Handeln übt sich vor allem an Extrembeispielen, soweit sie sich überhaupt um einen Bezug zur Realität bemüht. Immerhin beteiligen sich die "angewandten" Ethiker an konkreten gesellschaftlichen Diskussionen, z.B. in bereichsspezifisch eingerichteten "Ethikkommissionen". Als konkrete Handlungsempfehlung hat sich etwa die Eidg. Ethikkommission für die Biotechnologie im Ausserhumanbereich (EKAH) auch schon zur Würde der Pflanzen geäussert. Wer dieses Papier liest, hegt schnell den Verdacht, dass die Ethik hier – angesichts des Fehlens eines allgemein anerkannten normativen Massstabs – einfach zum Transport der eigenen politischen oder religiösen Wertvorstellungen missbraucht wird. Diese Gefahr besteht auch vorliegend.
In einem Rechtsstaat haben Gesetzgeber und Behörden grundsätzlich davon auszugehen, dass die Bürger das anwendbare Recht einhalten. Unterstellte man den Bürgern immer gleich eine Tendenz zum Rechtsbruch oder Rechtsmissbrauch, würde dies unsere gesellschaftlichen Strukturen grundsätzlich infrage stellen. Analog kann angenommen werden, dass unsere Mitmenschen ihr Handeln durchaus an einem Wertgefüge ausrichten. Zu glauben, dass man als Einziger über einen geeichten moralischen Kompass verfüge, alle anderen aber nicht, ist ignorant und arrogant zugleich. Wer daher seine persönlichen Wertvorstellungen anderen aufzwingen will, bedarf aus moralischer Sicht einer besonderen Rechtfertigung. Diese wird bei der Stimmabgabe an der Urne freilich nicht abgefragt. Nichtsdestotrotz stellt die blosse Möglichkeit, anlässlich einer Volksabstimmung anderen etwas verbieten zu können, für sich allein keine Legitimation für Verbote dar. Mit anderen Worten ist das, was man tun kann und tun darf, nicht deckungsgleich mit dem, was man tun soll. Wer also seinen Mitmenschen den Zugang zu den hier vorgeschlagenen, offensichtlich unproblematischen Verfahren der Fortpflanzungsmedizin verbieten möchte, sollte zuallererst näher ergründen, ob die eigene ethische Basis für diese Intervention in Drittangelegenheiten auch wirklich belastbar ist.
St.Gallen, 27. Mai 2016