Im 500. Jahr nach Marignano sieht sich die Schweiz mit einer Schlacht um die historische Deutung des Ereignisses konfrontiert. In einem Wahljahr lässt sich so wunderbar wie fruchtlos darüber streiten, ob die Schlacht eine Abkehr von Grossmachtbestrebungen und eine Hinwendung zur Neutralität zur Folge hatte. Gemeineidgenössische Einigkeit besteht immerhin darin, dass das Gemetzel überaus blutig war, und dass sich die zahlenmässig und technologisch unterlegenen Eidgenossen kaum den Sieg erhoffen konnten.
Taktisch war die Schlacht ein Desaster: Die Berner stimmten einem Friedensangebot des französischen Königs zu und gingen nach Hause. Kriegslustigere Teile der Streitmacht wagten ohne Absprache einen Frontalangriff auf die feindlichen Stellungen, die noch dazu befestigt waren. Das ohnehin bescheidene Kanonenfeuer wurde ohne Befehl eröffnet. Die Hauptleute fanden keinen Gehorsam; die Schweizer kämpften bald nur noch in Kleingruppen, sofern ihnen nicht die schwierige Flucht gelang. Heute wird die unausweichlich erscheinende Niederlage nicht überraschend einer fehlenden Strategie sowie mangelnder Führung und Disziplin zugeschrieben. Was sollen wir aber daraus noch lernen können?
Verfügung als Gewehrkugel des neuzeitlichen Bürokraten
Es ist naheliegend, die erfolgreiche Schlacht auf französischer Seite dem König und der durch ihn verkörperten, einheitlichen Führung zuzuschreiben. Der Glaube an die Leistungsfähigkeit der ordnenden staatlichen Hand ist auch heute wieder ungewöhnlich stark. Der Mensch habe, so schrieb der Kollege Markus Müller von der Uni Bern vor kurzem, «das Bedürfnis, sich leiten und führen zu lassen – durch irgendeine Autorität, eine Mode, eine Ideologie, ein Idol.» Erwartet wird freilich keine Ordnung durch rohe Gewalt, sondern eine staatliche Ordnung durch Recht. Die für diese Ordnung notwendigen Strategien und Pläne entfalten sich entsprechend nicht mehr auf dem Schlachtfeld, sondern werden für Wirtschaft und Gesellschaft artikuliert. Salven aus Aktions-, Massnahmen- und Masterplänen bereiten das Feld für nachfolgende regulatorische Vorstösse. Die Verfügung ist die Gewehrkugel des neuzeitlichen Bürokraten.
Wer ordnen will, stülpt Struktur über Chaos, ersetzt Netzwerke durch Hierarchien und beseitigt Vielfalt zugunsten von Uniformität. Ordnung rechtfertigt, einen Mietvertrag nach 32 Jahren zu kündigen, weil die betreffende Imbissbude nicht zum Stadtbild passt. Ordnung erfordert, dass die Ladenöffnungszeiten in allen Schweizer Gemeinden gleich geregelt sind. Ordnung verlangt, dass der zur Querschnittslähmung führende Sprung ins trübe Wasser zusätzlich mit einer Kürzung der Unfallrente bestraft wird. Ordnung verleitet zum Glauben, bahnbrechende Innovationen würden tatsächlich in «Innovationsparks» entstehen. Ordnung verführt zur Illusion, jedes menschliche Verhalten könne auf geringstmögliche Schäden und Kosten hin gesteuert werden. Nichts ist unwichtig genug oder zu persönlich, als dass es nicht nach dem kollektiven Willen geordnet werden könnte.
Offen für Innovationen waren diese Eidgenossen nicht
Es ist erstaunlich, dass die ziemlich ungeordneten «Schlachthaufen» bis zum Abend des 13. September 1515 tief in die feindlichen Reihen vordrangen; die Eidgenossen konnten sich bis zum Eingreifen der venezianischen Reiterei gar als Sieger wähnen. Die bei Carl von Clausewitz beschriebene «Friktion» – Feind jeder hierarchischen Ordnung – mag Grund für diesen relativen Erfolg sein, der trotz militärischer Niederlage in einen vorteilhaften Frieden für die Schweizer mündete. Die Schwäche der alten Eidgenossen haben sich auf einem anderen Feld als Stärke erwiesen: Eine Präferenz für dezentrale Entscheidungsmechanismen, die in einen föderalistischen Staatsaufbau gemündet, regulatorischen Wettbewerb befeuert und Bottom-Up-Lösungen ermöglicht haben.
Dennoch: Offen für Innovationen waren diese Eidgenossen nicht. Wer lieber mit Schwertern und Hellebarden als mit Feuerwaffen auf den Feind zu stürmt, hat die Niederlage redlich verdient. 1515 bildet nicht den Nukleus der modernen Schweiz, die durch ihre Offenheit für technische Innovationen und das Belassen von kreativen Nischen eine stattliche Anzahl von Künstlern, Schriftstellern und Forschern hervorbrachte (und nicht zu vergessen: solche herausragenden Persönlichkeiten auch als Flüchtlinge bei sich aufnahm). Das freie Wirtschaften in der Schweiz war durch obrigkeitlichen Dirigismus, das Zunftwesen und ehehafte Privilegien beschränkt. Diese alte Schweiz hielt nicht viel von einem starken Schutz gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Freiheiten. Von einem breit gestreuten Privateigentum sowie wettbewerblich organisierten und international offenen Märkten war sie weit entfernt. Mit der Schlacht von Marignano kann also trefflich Wahlkampf getrieben werden; eine Zukunft darauf bauen können wir aber nicht.
Dieser Beitrag erschien als Kolumne im HSG Focus-Magazin 2/2015 unter folgendem Anriss: Nerviges Gezeter um Marignano - Mit einem Wahlkampf um die Vergangenheit lässt sich keine Zukunft bauen. Peter Hettich über das Ausschlachten der Schlacht von Marignano.