Gestern Nachmittag durfte ich anlässlich einer Tagung zu den Sozialrechten in der Schweiz den Standpunkt des Wirtschaftsrechts (und damit wohl der "Wirtschaft" generell) vertreten. Im Zentrum der Debatte steht dabei immer wieder die Europäische Sozialcharta. Diese ist gemäss den Tagungsveranstaltern "das wichtigste Dokument für den Schutz wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte auf europäischer Ebene". Obwohl der Bundesrat die Charta schon 1976 unterzeichnet hat, hat die Schweiz diese nie ratifiziert. Dabei soll die Schweiz eigentlich viele Rechte der Charta schon garantieren, weshalb einem Beitritt zu diesem Übereinkommen nichts im Wege stehe. Die Gründe für die ausbleibende Ratifikation der Sozialcharta liegen deshalb vermutlich in tieferen Schichten verborgen, die ein nur oberflächlicher Blick auf die Rechtslage nicht ergründen kann.
Die Sozialcharta beginnt mit einem "Recht auf Arbeit": "Jedermann muss die Möglichkeit haben, seinen Lebensunterhalt durch eine frei übernommene Tätigkeit zu verdienen." Auf dieser abstrakten Stufe würde das auch der Wirtschaftsrechtler unterschreiben: Sich seinen Lebensunterhalt unabhängig von Zuwendungen von Dritten verdienen zu können, ist ein Instrument zur Verwirklichung zentraler Elemente der Menschenwürde – man könnte mutig vom "ideellen Gehalt der Wirtschaftsfreiheit" sprechen. Der Wirtschaftsrechtler denkt bei beim Recht auf Arbeit also an Freiheitsrechte, und vor allem an Marktzugang: KMU-freundliche Regulierung, Bürokratieabbau, aber auch Personenfreizügigkeit für Menschen mit einem Arbeitsvertrag in der Tasche. In diesem Sinne sind Wirtschaftsfreiheit und Sozialrechte eben gerade nicht Antagonisten, die der Sozialgesetzgeber auszubalancieren hätte, sondern zwei Seiten der gleichen Medaille.
Mit diesem Begriffsverständnis war ich natürlich in der Minderheit. Auch die Verfasser der Sozialcharta bringen andere Inhalte zum Ausdruck, wie der Bundesrat 1983 in seiner Botschaft zum Beitritt (S. 1269) selbst klar darlegte:
Die Sozialcharta atmet den Geist des starken Staates, der Arbeitsplätze "schafft" oder "beschafft" und sie mit wirtschafts- und konjunkturpolitischen Massnahmen "erhält". Man klammert sich an das vermeintliche Idealbild der lebenslangen Anstellung und des Aufstiegs nach Senioritätsprinzip, alles im selben Betrieb. Gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Wandel, der das Bild des immobilen Arbeitnehmers infrage stellen könnte, wird ignoriert. Selbständige Unternehmer, die mit neuen, innovativen Produkten und Dienstleistungen Märkte bedienen, die im Wettbewerbsprozess Arbeitsplätze aufbauen und allenfalls auch einmal abbauen müssen, sind kein Thema der Sozialcharta.
Das in der Sozialcharta zum Ausdruck gebrachte Sozialmodell ist entweder gescheitert oder existiert nicht mehr: Frankreich und Portugal, die sämtliche Bestimmungen der Sozialcharta umzusetzen versprochen haben, weisen eine Jugendarbeitslosigkeit von 24,1% bzw. 34,8% auf. Von den Zeitbomben in Griechenland und Spanien, wo mehr als die Hälfte der unter 25-jährigen keine Arbeit haben, dürfen wir gar nicht sprechen. Solange sich die Rahmenbedingungen in diesen Ländern ("ease of doing business") nicht ändern, wird auch das "Recht auf Arbeit" illusorisch bleiben.
St.Gallen, 1. Mai 2015