Der europäische "Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" findet im Mittelmeer eine scharfe Grenze. An die 900 Menschen haben am 19. April 2015 ihre Suche nach einem besseren Leben mit dem Verlust desselben bezahlt; insgesamt ertranken dieses Jahr schon 1'600 Flüchtlinge im Mittelmeer. Das tägliche Sterben wird nur noch überschattet vom offensichtlichen Unvermögen, etwas dagegen zu tun – und Verantwortung für dieses Drama zu übernehmen, das Europa zumindest teilweise mitverursacht hat.
Die weitaus meisten Bootsflüchtlinge stammen aus Syrien. Selbst nach Überschreiten "roter Linien" sahen die westlichen Staaten keine Veranlassung, dem blutigen Massaker in diesem Land Einhalt zu gebieten. Man will sich nicht noch einmal die Finger verbrennen: Nicht unvermutet kommen weitere grosse Flüchtlingsgruppen aus Afghanistan und Irak; Länder, die vor allem aus innenpolitischen Gründen vorzeitig von westlichen Streitkräften verlassen und in unsäglichem Zustand zurückgelassen wurden. Viele Flüchtlingsboote stechen von Libyen in See, einem gescheiterten Staat, auf den der Westen seit seiner Militärintervention 2011 weniger Einfluss zu haben scheint als zu Zeiten der Herrschaft Muammar al‑Gaddafis.
Wer denkt, den Zustrom von Flüchtlingen mit einer Wiederbelebung der italienischen Rettungsaktion "Mare Nostrum" oder einer glaubwürdigeren Finanzierung der EU-Frontex Operation "Triton" beherrschen zu können, setzt nur an den Symptomen des eigentlichen Übels an. Europa lässt heute Flüchtlinge den Preis bezahlen für jahrelange Verfehlungen in einer kaum kohärenten "gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik". Von einer wirksamen Wachstumspolitik, die in den südeuropäischen Krisenländern die (Jugend-)Arbeitslosigkeit entschärfen und die Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt ermöglichen könnte, darf man gar nicht anfangen zu reden. Frei nach dem Motto des Schweizer Pavillons an der Expo 1992 lässt sich sagen: "L'Europe n'existe pas".
St.Gallen, 24. April 2015