Am 23. September 2014 hat das Bundesverwaltungsgericht zwei Urteile zu Wettbewerbsabreden bei Baubeschlägen gefällt (B-8399/2010 i.S. Siegenia-Aubi AG und B-8404/2010 i.S. SFS unimarket AG). Von diesen sorgt vor allem das Siegenia-Aubi-Urteil - so Adrian Rass im Blog wettbewerbspolitik.org - für "erhebliche Verwirrung". Der Einschätzung von Raas kann man durchaus zustimmen. Diskutabel in dem 105-seitigen Urteil sind vor allem die Aussagen zum Beweismass bei Kartellrechtsverstössen, zur Abklärung der Marktwirkung von Wettbewerbsabreden (sog. Erheblichkeit) sowie zum Verhältnis des schweizerischen Kartellgesetzes zum europäischen Recht. Zur "Erheblichkeit" macht das Urteil folgende Aussage, die quer zu früheren Entscheiden steht:
“Im Zusammenhang mit der Frage nach dem rechtsgenüglichen Nachweis von bestehendem Restwettbewerb gilt es an dieser Stelle ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass im Gegensatz zur EU, in der seit dem 1. Mai 2004 auf Wettbewerbsbeschränkungen eine Verbotsgesetzgebung mit Legalausnahme Anwendung findet, in der Schweiz statt per se-Verboten eine Missbrauchsgesetzgebung gilt (...). Folglich hat die Vorinstanz de lege lata in jedem Einzelfall nachzuweisen, dass der Wettbewerb durch die fragliche Abrede erheblich beeinträchtigt wird. Zum heutigen Zeitpunkt besteht im schweizerischen Kartellrecht somit keine per se-Erheblichkeit, weshalb die Auswirkungen von Absprachen auf dem Markt durch die Vorinstanz zu untersuchen sind.”
Mit dieser Forderung macht das Bundesverwaltungsgericht eine Kehrtwende zu den zwei früheren Zahnpasta-Urteilen (dazu hier im Blog) vom 19. Dezember 2013 (B-463/2010 i.S. Gebro Pharma GmbH und B-506/2010 i.S. Gaba International AG), in denen sich zum selben Auslegungsproblem folgende Aussage findet:
“Zwar ist grundsätzlich die Erheblichkeit einer Abrede anhand qualitativer und quantitativer Kriterien zu bestimmen. Im vorliegenden Fall genügt allerdings bereits die qualitative Erheblichkeit, wie die nachfolgenden Ausführungen zeigen. Wenn nämlich das Kartellgesetz selbst in Art. 5 Abs. 4 KG statuiert, dass solche Verbote vermutungsweise den Wettbewerb beseitigen, so ist a maiore ad minus grundsätzlich auch deren qualitative Erheblichkeit zu bejahen, unabhängig von allfälligen quantitativen Kriterien. Dies entspricht im Übrigen auch der Rechtslage in der Europäischen Union ... .”
Für Verwirrung ist damit nicht nur im Bereich der Anwendung des Erheblichkeitsbegriff gesorgt. Folgende Punkte dürften nun für einige Zeit noch zu Kopfzebrechen führen:
- Das Siegenia-Aubi-Urteil nimmt offensichtlich deutlichen Abstand vom Konzept der qualitativen Erheblichkeit bzw. per se-Erheblichkeit, ohne sich aber mit den früheren Urteilen i.S. Gebro und Gaba auseinanderzusetzen. Dies obwohl gerade diese Urteile häufig als Grund genannt wurden, dass die Kartellgesetzrevision im Bereich von Art. 5 KG nicht zwingend notwendig sei. Bis zur nächsten Möglichkeit der Klärung im prominenten Fall "BMW" bleibt damit vorerst unklar, ob es sich bei dieser Unterlassung um ein schwerwiegendes Versäumnis handelt oder eine Änderung der Praxis bezeckt wird.
- Das Bundesgericht hat im Mobilterminierungsurteil i.S. Swisscom (BGE 137 II 199 E. 4.3) relativ deutlich die Auffassung geäussert, dass das schweizerische Kartellrecht grundsätzlich autonom und nicht parallel zum europäischen Recht auszulegen sei. Das Bundesverwaltungsgericht setzt sich in den vier genannten Urteilen aber nicht mit den Argumenten des Bundesgerichts auseinander und macht vielfältige Bezüge zur europäischen Rechtspraxis; dies gilt auch für das Siegenia-Aubi-Urteil, vor allem im Bereich des Beweismasses (E. 4.4.4).
- Schliesslich enthält das Siegenia-Aubi-Urteil sehr umfangreiche Ausführungen zum erforderlichen Beweismass (E. 4). Dabei gelangt das Gericht zum Schluss, dass grundsätzlich vom Erfordernis des "Vollbeweises" auszugehen ist. Damit gilt das gleiche Beweismass wie im Strafrecht, nämlich "dass der Richter nach objektiven Gesichtspunkten von der Verwirklichung der Tatsache überzeugt" sein muss. Diese hohe Anforderung gelte auch dann, wenn eine Selbstanzeige vorliege. Allerdings anerkennt auch das Bundesverwaltungsgericht, dass eine strikte Beweisführung bei kartellrechtlichen Zusammenhängen kaum möglich ist. "Eine gewisse Logik der wirtschaftlichen Analyse und Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit müssen aber überzeugend und nachvollziehbar erscheinen" (so auch BGE 139 I 72, Publigroupe). Wie sich die strengeren Beweisanforderungen auswirken werden erscheint zum heutigen Zeitpunkt kaum klar. Ingesamt dürfte sich aber dadurch die Durchsetzung des Kartellrechts für die Wettbewerbskommission nicht gerade einfacher gestalten.
St.Gallen, 24. Oktober 2014