Es gibt eine vielzitierte Episode im Leben von Angela Merkel, da steht sie als junges Mädchen in Templin in der Uckermark im Schwimmbad auf dem Sprungbrett. Eine ganze Stunde soll sie überlegt haben, ob sie nun springen soll oder nicht. Erst ganz am Schluss des Schwimmunterrichts wagte sie den Sprung: "So bin ich eben, nicht besonders mutig", sagte sie. "Ich brauche immer eine Weile, um die Risiken abzuwägen." Diese Episode ist mir sofort wieder in den Sinn gekommen, als ich die Reaktionen gewisser Politiker auf das - aufgrund des dortigen Geothermieprojekts ausgelöste - Erdbeben vom 20. Juli 2013 in der Region St.Gallen las.
Da gibt es diejenigen, die vermutlich schon immer gegen die Geothermie waren und sofort den Abbruch dieses und weiterer Geothermieprojekte forderten (Christian Wasserfallen im Tagesanzeiger: "Die Forschung in der Geothermie zwecks Stromerzeugung steckt heute noch in den Kinderschuhen. Unter diesen Voraussetzungen ist es unsinnig, dass wir hohe Geldbeträge in konkrete Projekte stecken."). Doch selbst Befürworter dieser Energiequelle schaffen sich Rückzugspositionen (Kathy Riklin in der NZZ: "Ich will zwar nicht sagen, dass der Vorfall gleich das Aus für diese Energiequelle bedeutet, aber es ist ein herber Rückschlag und sehr schade."). Besser noch Rudolf Rechsteiner, auch in der NZZ: "Geothermie zur Stromgewinnung ist ein Hobby für Geologen. Der Gewinn steht in keinem Verhältnis zu den Risiken." Und Beat Jans weist in der AZ schon darauf hin, dass der Atomausstieg auch ohne Geothermie möglich sei.
Ich will hier nicht darüber wehklagen, dass die meisten dieser Äusserungen zu einem Zeitpunkt erfolgt sind, als man schlicht noch keine Ahnung haben konnte, was überhaupt passiert ist. Auch ist es müssig, den Opportunismus derjenigen Politker zu beklagen, die den ersten Rückschlag bei einem Projekt zum Abbruch nutzen wollen und damit ohne zu zögern grössere Summen an öffentlichen Geldern verlochen.
Vielmehr erschreckt mich die Unfähigkeit dieser Politiker zu einer vernünftigen Risikoabwägung. Kann die Episode von Angela Merkel vielleicht nicht nur als Illustration ihrer eigenen Charakterzüge, sondern als Sinnbild für eine ganze Generation von Politikern stehen, die angesichts der derzeit grossen gesellschaftlichen Herausforderungen vor allem ängstlich, zögernd und führungsschwach erscheinen? Wenn Politiker heute von einem "Supergrundrecht Sicherheit" reden, so offenbaren sie nicht nur ihre juristische Inkompetenz (es gibt kein allgemeines Grundrecht auf Sicherheit, schon gar kein "Super"-Grundrecht). Sie bringen damit auch ihre Prioritätenordnung zum Ausdruck, die auf maximale Sicherheit setzt, damit aber auch minimale Veränderung und minimale Innovation fördert. Mit dieser Haltung kann man keine Energiestrategie 2050 umsetzen.
Es muss uns doch allen klar sein, dass jeder Energieträger Chancen und Risiken in sich birgt. Dies gilt nicht nur für die vielgescholtene Kernenergie, sondern auch für die Wasserkraft, die Windkraft, die Photovoltaik und eben Geothermieanlagen. Selbst die Wahl eines "sichereren", aber teureren Energieträgers birgt Risiken, da solche Entscheide gesamtwirtschaftliche Auswirkungen haben, vor allem die verfügbaren Einkommen vermindern, und damit die Sicherheit in ganz anderen Bereichen schmälern.
Das Beben vom 20. Juli 2013 war mit einer Stärke von 3,6 spürbar, aber schwach. Personenschäden gab es keine, Sachschäden bewegten sich in nicht nennenswerter Grösse. Das Risiken weiterer Beben besteht. Diese Risiken sind kaum kalkulierbar. Dennoch ist es nicht unvernünftig, das Projekt zu diesem Zeitpunkt fortzuführen, selbst wenn es noch ein zwei weitere Beben in dieser Grössenordnung geben sollte. Ein solcher Entscheid bedarf aber freilich Führungsstärke.