Der Bundesrat hat am 3. Juli einen Bericht publiziert, wonach der "kollektive Rechtsschutz" in der Schweiz ungenügend sei und verbessert werden solle. Er folgt damit implizit der von Prisca Birrer-Heimo eingereichten Motion 11.3977, welche eine Erleichterung der Rechtsdurchsetzung in kollektiven Verfahren fordert. Das schnelle Voranschreiten des Bundesrates ist nicht nur deshalb überraschend, weil diese Motion im Parlament noch gar nicht behandelt wurde. Erstaunlich ist das Vorgehen des Bundesrates auch, weil dieser in seiner Botschaft vom 28. Juni 2006 zur Schaffung einer eidgenössischen Zivilprozessordnung die Sammelklage noch deutlich ablehnt.
Für einen Artikel im St.Galler Tagblatt wurde ich zur Stellungnahme eingeladen, was ich von diesem Instrument halte und wo ich die Vor- und Nachteile sehe. Von dieser Stellungnahme floss hauptsächlich das Argument in den Artikel ein, dass von der Sammalklage vor allem Anwälte, Prozessfinanzierungsfirmen und Konsumentenverbände profitieren dürften, aber kaum der einfache Konsument. In der Tat haben sich in dem Artikel zwei Anwälte für die Einführung der Sammelklage ausgesprochen. Das Nachfolgende entspricht meiner Stellungnahme an das Tagblatt:
Die Sammelklage soll eine Rechtsschutzlücke füllen, die vor allem auf Seiten der Konsumenten besteht. Wenn ein Unternehmen einer anderen Person einen Schaden von einer Million Franken verursacht, kommt es mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Prozess oder einer vergleichsweisen Vereinbarung von Ausgleichszahlungen. Wenn ein Unternehmen 10'000 Konsumenten einen Schaden von je CHF 100 verursacht, dann passiert wahrscheinlich nichts. Der Aufwand zur Durchsetzung der Forderung lohnt sich für den einzelnen Konsumenten nicht. Das Unternehmen wird diesen Umstand strategisch ausnützen, was sich z.B. in einer minderwertigen Produktequalität niederschlagen kann. Die Möglichkeit einer Sammelklage würde diese "perversen" Anreize ausgleichen. In der Theorie ist das alles einleuchtend und macht Sinn, vor allem in Bereichen mit Massenschäden: Produkte, Finanzanlagen, Kartellrecht, etc.
Heute muss ein Anwalt zunächst die effektiv Geschädigten suchen, von jedem eine Vollmacht einholen und vermutlich einen Kostenvorschuss verlangen sowie den Schaden jedes einzelnen Klägers vor Gericht nachweisen (Modell der Streitgenossenschaft). Würde eine Form der Sammelklage in der Schweiz eingeführt, müsste man sich folgendes überlegen:
- Soll es zulässig sein, dass eine Klage im Namen einer Gruppe von Personen angehoben wird, die den Anwalt oder Konsumentenverband gar nicht bevollmächtigt hat?
- Soll es einem Anwalt erlaubt sein, den Prozess vorerst gratis zu machen und sich dann danach aus dem Prozessgewinn zu entschädigen (ca. 30% in Amerika, in der Schweiz heute verboten)?
- Soll es Erleichterungen geben beim Nachweis des Schadens, indem man einfach das Fehlverhalten nachweist und versucht den entstandenen Schaden zu schätzen? Namentlich in Kartellverfahren und Anlegerschutzverfahren ist dieser Nachweis des Schadens für den einzelnen Konsumenten extrem schwierig.
Würde man all dies anpassen, stellt sich für mich folgende Frage: Lohnt sich das für den einzelnen Konsumenten? Bei meinem Beispiel mit dem Schaden von je CHF 100 würde beim einzelnen Konsumenten wohl nur noch ein kleiner Betrag landen, da zuerst die Kosten abgezogen werden. Zuallererst würde sich vermutlich der Konsumentenverband und der Anwalt aus dem Prozessgewinn entschädigen. Hier sehe ich auch die grosse Gefahr. Schaffen wir hier nicht einfach eine grosse Prozessindustrie, welche zuallererst den Anwälten nützt? Dienen diese Prozesse nicht einfach der Profilierung bestimmter Akteure, z.B. der Verbände? Ist es wirklich sinnvoll, die Konsumenten in Einzelfällen zu entschädigen, wenn diese Prozesskosten und Entschädigungen letztendlich wieder auf die Preise für die fraglichen Produkte überwälzt werden und alle Konsumenten dann unter dem Strich mehr bezahlen?
Führt man Sammelklagen ein, müsste man schliesslich noch darüber nachdenken, was die Rolle der staatlichen Aufsichtsbehörden ist. Nach dem europäischen System sind fast alle Konsumenten-Produkte reguliert. Die Aufsichtsbehörde (etwa die Weko) hat die Möglichkeit, bei Verstössen empfindliche Bussen zu verhängen. Diese Bussen bilden in Europa an sich das Korrektiv für Fehlanreize bei den Unternehmen. Was in Amerika die Funktion der Sammeklagen ist, ist in Europa Sache der Wirtschaftsregulierung. Sollen die Bussen der Aufsichtsbehörden also kumulativ verhängt werden? oder alternativ?
Unter dem Strich: In der Theorie funktioniert das Instrument der Sammelklagen bestens, für die Umsetzung in der Praxis habe ich erhebliche Bedenken. Am Schluss kann es gut sein, dass von dem Instrument der Sammelklage vor allem Anwälte, Prozessfinanzierungsfirmen und Verbände profitieren, aber nicht der Konsument.
Der Artikel zu Sammelklagen ist am 17. Juli 2013 unter dem sinnigen Titel "Experten streiten sich über Einführung von Sammelklagen" und "Juristischer Import mit Tücken" im St.Galler Tagblatt und der Thurgauer Zeitung erschienen sowie unter dem Titel "Bundesrat scheint bei Sammelklagen Haltung zu ändern" in den Schaffhauser Nachrichten (von Marina Wider).