In Brütten steht ein Haus, das ohne Zuführung von Strom, Erdgas oder Öl funktioniert und ausschliesslich mit Sonnenenergie betrieben wird. Als weltweit erstes solches "Haus ohne Anschluss" wurde es von Doris Leuthard anlässlich der Eröffnung als "Quantensprung für die Energiestrategie" gepriesen. Ob in Brütten tatsächlich "Zukunft gebaut worden" ist, wie die Bundesrätin ausgeführt hat, ist für den Autor dieses Blogs allerdings nicht so klar.
Zum heutigen Zeitpunkt ist das "Haus ohne Anschluss" ein Fremdkörper in einem netzbasierten Energiesystem. Grundsätzlich kann das Verteilnetz umso effizienter und kostengünstiger betrieben werden, je mehr Haushalte sich dem Netz anschliessen. Wenn sich also in Zukunft die Hälfte der Haushalte für eine energieautarke Lösung und die andere Hälfte für den Netzanschluss entscheiden sollten, stellt dies die Existenz des Netzes selbst infrage. Während diese Grundsatzfrage in Bereichen wie Gas und Wärme vielfach zu einem hoheitlichen Anschlusszwang - und damit zu einem Entscheid für das Netz - führt, wird dieselbe Frage bei diesem "Leuchtturmprojekt" (vorerst) ausgeblendet. Dies erscheint nicht nur als potenziell kostspielige Nachlässigkeit, sondern gar als etwas widersprüchlich.
Gemäss den Initianten des Projekts zeigt das Haus ohne Anschluss, "dass nachhaltiges Bauen heute ohne Komforteinbusse möglich ist." Damit das Projekt jedoch funktioniert, müssten die Bewohner ihren jährlichen Energieverbrauch mindestens halbieren. Auch über die den Bewohnern zur Verfügung stehende Leistung ist wenig bekannt: Können Haarfön und Kaffeemaschine überall gleichzeitig betrieben werden? So verhehlen die Bauherren nicht, dass die Senkung des Energieverbrauchs nicht allein durch mehr Effizienz erreicht werden kann, sondern eine Veränderung des Verhaltens bedingt (siehe Tips und "Anweisungen" im Faltprospekt).
Etwas polemisch gesagt ist das Verhalten am Feierabend nicht auf persönliche Erholung und Komfort, sondern auf das Energiesparen auszurichten. Während viele dieser Sparideen durchaus sinnvoll sind, erscheinen sie als Zwang überschiessend: Es gibt nun einmal viele Personen, die nicht unter einem wassersparenden Duschkopf stehen wollen und die Wert auf eine qualitativ ansprechende Beleuchtung legen (siehe früherer Blog hier). Solche individuellen Vergnügungen werden im Brüttener Haus jedoch mit einem Bonus-/Malus-System geahndet. Man kann sich gut die wöchentlichen Konsensgespräche und nachbarlichen Interventionen wegen des Energieverbrauchs vorstellen, was viele Interessenten abschrecken dürfte. Übrigens passt auch der Tesla S, mit dem die Bundesrätin nach Brütten gereist ist, wohl kaum in die Philosophie der zukünftigen Bewohner des Hauses ohne Anschluss. Ob wir eine solche Hinwendung zu einem genügsamen Leben (neudeutsch: Suffizienz) wirklich alle wollen, hat noch niemand so richtig gefragt (siehe früherer Blog hier).
Vorerst handelt es sich beim "Haus ohne Anschluss" um ein interessantes Experiment, bei dem sich angesichts des relativ günstigen Mietzinses von CHF 2'500 für eine 4,5-Zimmer-Wohnung auch die Frage stellt, wieviele öffentliche Gelder in dieses Leuchtturmprojekt geflossen sind. Ob das Projekt zukunftsweisend ist, wird sich zeigen. Als besonders sinnvoll erscheint das zwanghafte Energiesparen in einer Zeit, wo die Grosshandelspreise für Elektriziät im Bereich von 3 Rp./kWh liegen, eher nicht. Sarkastisch merken erste Manager aus der Energiewirtschaft an, man möge doch angesichts der deplorablen Situation der Branche eher Anreize für eine Steigerung des Energieverbrauchs setzen. Man fühlt sich an die Landwirtschaftspolitik erinnert, welche die Überproduktion zuweilen mit staatlich finanzierten Verwertungsmassnahmen verschleudern hilft. In dieser Situation, wo die Zukunft der produzierenden Energiewirtschaft stark gefährdert erscheint, mag ein energieautarkes Haus nun aber gar fast als Versicherung gegen energiepolitische Unvernunft erscheinen.
St.Gallen, 10. Juni 2016