Letzte Woche publizierte das Online-Magazin "Influence" einen Chart unter dem Titel "Wo es am wenigsten Gewalt gibt". Danach soll Europa die friedlichste Region der Welt sein - jedenfalls basierend auf dem Global Peace Index vom Juni 2015, der Grundlage des Charts ist. Es scheint also, als wäre alles in Butter in Europa, und der Auftrag von Art. 3 Abs. 2 EUV erfüllt: "Die Union bietet ihren Bürgerinnen und Bürgern einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen". Das Bauchgefühl widerspricht hier heftig - im Ergebnis könnte die Analyse nicht falscher sein.
Die #influence-Rubrik #ChartderWoche heute mit dem global peace index @GlobPeaceIndex https://t.co/h9W9rh6R6I pic.twitter.com/Zb1B6vb4sR
— furrerhugi. (@furrerhugi) February 12, 2016
Neben den aktuell geführten Kriegen und der Anzahl Gewaltverbrechen bezieht der Index auch die Militärausgaben, die Grösse der Armee, die Waffenimporte und -exporte sowie das Waffenarsenal als Negativfaktoren mit ein. Ein Land schneidet im Index also besser ab, je weniger "wehrhaft" es ist. Der Index zeigt damit nur den aktuellen Zustand des Friedens auf, verliert aber zugleich jede Aussagekraft für das Kommende. Mit Blick in die Zukunft lässt sich aus dem Index bestenfalls noch herauslesen, dass Europa jeden Antrieb verloren hat, in Konflikte an seiner Peripherie militärisch einzugreifen. Die negativen Folgen dieser Antriebslosigkeit scheinen mehr und mehr auf: Der europäische Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts bröckelt nun auch im Inneren gefährlich.
Nach teilweise zu zögerlich eingegangenen, halbherzig geführten, zu früh abgebrochenen oder sonstwie verlorenen Konflikten in Irak, Afghanistan und Libyen haben westliche Politiker verständlicherweise wenig Ambitionen, sich in Syrien auf eine weitere Auseinandersetzung einzulassen: Menschen könnten dabei sterben. In Europa, wo jeder Lebensaspekt auf maximale Sicherheit hin reguliert wird, wirkt es in der Tat anachronistisch, Soldaten in einen möglichen Tod zu schicken. Weil das konsequente Untätigbleiben aber noch viel mehr Leben kosten wird, erscheint diese vermeintliche Friedenspolitik jedoch als politisches Kalkül (dazu schon früher hier: L'Europe n'existe pas).
Der offensichtliche Unwille des Westens zum militärischen Engagement lässt entsprechende Drohungen nurmehr als Worthülsen mit innenpolitischer Zweckrichtung erscheinen. Früher wirksame "Rote Linien" werden dem Gegner heute schon gar nicht mehr gezogen; man würde sich damit lächerlich machen. Aussenpolitische Probleme versucht Europa nur noch mit Geld zu lösen, niemals mit Macht. Durch diese Behäbigkeit werden aussereuropäische Konfliktgebiete heute anderen überlassen, deren Interventionsmotive nicht lauter sind und deren Wirken zu weiterer Destabilisierung führt: So zielen die russischen Luftangriffe in Syrien offenbar vor allem darauf, die Flüchtlingsströme nach Europa nicht abschwellen zu lassen. Noch schlimmer ist allerdings, dass nun jedem klar sein muss, dass Europa auch andere Regionen oder gar Verbündete, an deren Stabilität bzw. Prosperität ein europäisches Interesse besteht, unter dem Eindruck von Gewalt kampflos preisgeben wird. So zeigt eine Umfrage vom Juni 2015, dass in vielen Ländern keine Mehrheit hinter der Erfüllung der NATO-Bündnispflichten steht.
Nicht mehr lange und westliche Politiker werden verkünden, dass man sich notfalls auch mit Baschar al-Assad arrangieren könnte, wenn nur der Krieg in Syrien bald beendet werde (und die Flüchtlingsströme versiegen). Das Signal, dass damit in die Welt gesandt wird, ist freilich verheerend: Ein Freipass, der noch sehr viele Opfer fordern wird.
St.Gallen, 19. Februar 2016