Die Elektrizitätsstatistik zeigt deutlich, dass ein Ersatz der Kernkraft durch neue erneuerbare Energien noch über einen längeren Zeitraum nicht möglich sein wird. Der Ersatz dieser Elektrizität durch Importe wirft schwierige umweltpolitische und versorgungspolitische Fragen auf, denen sich der Stimmbürger stellen muss.
Wieder müssen die Kinder den Abstimmungskampf bestreiten. Sofie streckt mir die Zunge raus und meint, dass sie keinen Atomstrom brauche. Wie bei Kindern üblich, macht Sofie hier eine starke Ansage. Sofie blendet etwa aus, dass ihr Kinderspielzeug aus China auch mit Atomstrom hergestellt wurde. Aber item: Sofie will nicht, dass wir in der Schweiz weiter Atomstrom brauchen. Das ist eine legitime Haltung, die aber mit Tradeoffs verbunden ist.
Die schweizerische Elektrizitätsstatistik sagt uns, dass die schweizerischen Kernkraftwerke im letzten Jahr 22'100 GWh Strom erzeugt haben. Die Zahl sank von 26'400 GWh im Jahr 2014 aufgrund der ausserordentlichen Stillstände der Kernkraftwerke Beznau I+II sowie des Kernkraftwerks Leibstadt. Gemäss der Teilstatistik für erneuerbare Energien (S. 75) stehen diesen Zahlen eine Produktion aus Photovoltaik von 1'118.6 GWh und aus Wind von 110.0 GWh gegenüber. Es ist damit ganz offensichtlich, dass der schweizerische Atomstrom derzeit nicht mit inländisch erzeugtem, erneuerbarem Strom ersetzt werden kann.
Sofie wird nun einwenden, dass die Inititative den Elektrizitätsversorgern ausreichend Zeit lassen wird, eine ausreichende Kapazität an erneuerbaren Energien aufzubauen. Angesichts von fehlenden wirtschaftlichen Speicherlösungen für Elektrizität ist diese Annahme nicht haltbar. Was die Versorger an Kapazität im Sinne von installierter Leistung bereit stellen, entspricht nicht der in einem bestimmten Zeitpunkt benötigten Produktion. Die Produktion aus einer steuerbaren Anlage ist damit von vorneherein von höherer Qualität wie Strom aus einer Anlage, die unvorhersehbar produziert. So produzieren Windenergieanlagen an vier von fünf Tagen, Photovoltaikanlagen gar an acht von neun Tagen keinen Strom (Berechnung hier); der schweizerische Kernkraftwerkpark war 2015 dagegen an 3 von 4 Tagen verfügbar (2014 gar an 9 von 10 Tagen). Es handelt sich hier um gänzlich verschiedene Produkte! Man vergleicht daher nicht nur Äpfel mit Birnen, sondern Fenchel mit Mangos.
Die unausweichliche Lücke dürfte also mit Verzicht oder Importen gedeckt werden. Bei ausreichender Übertragungskapazität sind Importe heute problemlos möglich. Was genau hier importiert wird, lässt sich physikalisch kaum sagen. Mit grosser Wahrscheinlichkeit werden wir jedoch für die Importe nicht nur auf ausländischen Wind- und Sonnenstrom, sondern auch auf verstrohmte Kohle und Kernenergie zurückgreifen müssen. Der "Dreckstrom" lässt sich zwar mit Zertifikaten günstig "vergrünen". Der Zertifikatehandel ist jedoch mehr der Idee des mittelalterlichen Ablasshandels verhaftet als in der Realität verankert; es handelt sich um Augenwischerei. Immerhin wird nicht die Schweiz verschmutzt bzw. gefährdert, wird sich Sofie denken. Inzwischen warnt jedoch vor allem die eidg. Elektrizitätskommission davor, sich zu sehr auf die Verfügbarkeit ausländischer Importe zu verlassen. Aus Gründen der Landesversorgung kann man daher durchaus die Auffassung vertreten, der im Inland verbrauchte Strom sollte auch hier erzeugt werden. Dann sind aber steuerbare Grundlastkraftwerke auch weiterhin in der Schweiz zu betreiben.
Die Verfassung verlangt "eine ausreichende, breit gefächerte, sichere, wirtschaftliche und umweltverträgliche Energieversorgung". Mit diesem Auftrag verbunden ist eine ganze Reihe von (unauflösbaren) Zielkonflikten, die der Verfassungsgeber einfach dem Gesetzgeber zuschiebt. Gleichzeitig belässt der Verfassungsgeber dem Gesetzgeber eine ausreichende Flexibilität, die Energiepolitik unter Berücksichtigung der realen Bedingungen zu gestalten. Die Atomausstiegsinitiative gibt dagegen eine klare Vorgabe, befreit den Gesetzgeber aber nicht von schwierigen Entscheiden. Im Gegenteil!
St.Gallen, 4. November 2016