Wenn über 150 Rechtsprofessoren das Schweizer Volk zu einem "Nein" in einer Volksabstimmung auffordern, dann kann man zwei Schlüsse daraus ziehen: Entweder die Schweizer Fakultäten sind allesamt von naiven linken und netten Professoren unterlaufen, oder aber da ist wirklich etwas faul an dieser Vorlage. Allein schon die Wahrscheinlichkeiten deuten auf letzteres. Bei der Durchsetzungsinitiative geht es um eine Angelegenheit, die jenseits des Schemas "links - rechts" bzw. "konservativ - liberal" steht. Es geht um die Grundlagen unseres Zusammenlebens (siehe schon den Blog von letzter Woche). Nur so erklärt sich die fast einhellige Geschlossenheit einer sonst politisch heterogenen Professorenschaft. Ich erlaube mir daher, das Thema diese Woche nochmals aufs Tapet zu bringen und den Professorenappell für sich sprechen zu lassen:
Die Schweiz ist ein Rechtsstaat – Nein zur Durchsetzungsinitiative
Ein Appell der Professorinnen und Professoren der rechtswissenschaftlichen Fakultäten
Die Volksinitiative "Zur Durchsetzung der Ausschaffung krimineller Ausländer (Durchsetzungsinitiative)", über die wir am 28. Februar 2016 abstimmen werden, gefährdet die schweizerische Rechtsordnung mehrfach und in schwerwiegender Weise:
- Ziel der Durchsetzungsinitiative ist es, das richterliche Ermessen bei der Beurteilung der ausländerrechtlichen Konsequenzen von Straftaten vollständig auszuschalten. Die Gerichte sollen verpflichtet werden, ohne Rücksicht auf die betroffene Person, ihre persönlichen Verhältnisse und die Höhe der Strafe die Ausweisung von straffälligen Ausländerinnen und Ausländern zu verfügen. Den Richterinnen und Richtern wird dadurch verboten, ihrer ureigenen Pflicht zur Berücksichtigung der gesamten Umstände nachzukommen.
- Damit werden die von der Bundesverfassung gewährleisteten Grundsätze rechtsstaatlichen Handelns aus den Angeln gehoben, insbesondere das Verhältnismässigkeitsprinzip, die Gewaltenteilung und die Geltung der Grundrechte in der gesamten Rechtsordnung. Die Initiative steht auch im Widerspruch zu völkerrechtlichen Verträgen, vor allem zur Europäischen Menschenrechtskonvention und zum Freizügigkeitsabkommen mit der Europäischen Union.
- Die Durchsetzungsinitiative verlangt nach ihrem klaren Wortlaut, auch in der Schweiz geborene und hier aufgewachsene Ausländerinnen und Ausländer, die keinen Kontakt zum Herkunftsland ihrer Eltern pflegen ("Secondos"), mit den Kriminaltouristen in einen Topf zu werfen. Das betrifft eine bedeutende Gruppe junger Menschen, widerspricht dem Gleichheitsprinzip und ist unserer freiheitlichen Rechtsordnung unwürdig.
- Die Bundesverfassung wurde 1999 einer Totalrevision unterzogen, um wieder lesbar und für die Bürger und Bürgerinnen verständlich zu sein. Durch die von der Durchsetzungsinitiative vorgeschlagenen detaillierten Bestimmungen wird sie zu einem Ausschaffungshandbuch abgewertet.
- Die vom Parlament bereits verabschiedete Revision des Strafgesetzbuches zur Umsetzung der vom Volk und Ständen im November 2010 angenommenen Ausschaffungsinitiative verschärft die ausländerrechtlichen Konsequenzen von Straftaten, erlaubt jedoch den Gerichten im Einzelfall, die Grundsätze unserer Verfassungsordnung zu beachten. Sie kann nach der Ablehnung der Durchsetzungsinitiative in Kraft treten.
Die rechtsstaatliche Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit und muss verteidigt werden. Deshalb rufen die unterzeichnenden Professorinnen und Professoren an den rechtswissenschaftlichen Fakultäten der Schweiz die Stimmberechtigten dazu auf, in der Volksabstimmung vom 28. Februar 2016 die Durchsetzungsinitiative abzulehnen.
Erstunterzeichner: Andreas Auer (ZH), Paolo Bernasconi (TI), Martina Caroni (LU), Bernhard Ehrenzeller (SG), Alain Griffel (ZH), Tobias Jaag (ZH), Pascal Mahon (NE), Markus Müller (BE), Etienne Poltier (VD), Thierry Tanquerel (GE), Daniela Thurnherr (BS), Bernhard Waldmann (FR).
Mitunterzeichnende: Cesla Amarelle (NE), Martin Beyeler (FR), Eva Maria Belser (FR), Samantha Besson (FR), Giovanni Biaggini (ZH), Véronique Boillet (VD), Stephan Breitenmoser (BS), Peter Breitschmid (ZH), Andrea Büchler (ZH), Nadja Capus (BS), Pio Caroni (BE), Ursula Cassani (GE), Elisabeth Chiariello (BE), Thomas Cottier (BE), Stéphanie Dagron (ZH), Valérie Défago Gaudin (NE), Oliver Diggelmann (ZH), Tanja Domej (ZH), Jacques Dubey (FR), Anne-Sylvie Dupont (NE), Patrizia Egli (SG), Astrid Epinay (FR), Wolfgang Ernst (ZH), Roland Fankhauser (BS), Anne- Christine Favre (VD), Thomas Fleiner (FR), Alexandre Flückiger (GE), Peter Forstmoser (ZH), Thomas Gächter (ZH), Thomas Geiser (SG), Christoph Beat Graber (ZH), Seraina Grünewald (ZH), Peter Hänni (FR), Felix Hafner (BS), Isabelle Häner (ZH), Walter Haller (ZH), Michel Heinzmann (FR), Maya Hertig Randall (GE), Peter Hettich (SG), Michel Hottelier (GE), Reinhold Hotz (SG), Daniel Hürlimann (SG), Yvan Jeanneret (GE), Alexandra Jungo (FR), Regula Kägi-Diener (SG), Christine Kaddous (GE), Walter Kälin (BE), Christine Kaufmann (ZH), Regina Kiener (ZH), Heinrich Koller (BS), Georg Kreis (BS), André Kuhn (NE), Jörg Künzli (BE), Andreas Lienhard (BE), Matthias Mahlmann (ZH), René Matteotti (ZH), Giorgio Malinverni (GE), Vincent Martenet (VD), Arnold Mar- ti (ZH), Philippe Mastronardi (SG), Pierre Moor (VD), Nicolas Michel (GE), Daniel Möckli (ZH), Christoph Müller (NE), Georg Müller (ZH), Jörg Paul Müller (BE), Erwin Murer (FR), Yves Noël (VD), Kurt Nuspliger (BE), Xavier Oberson (GE), Matthias Oesch (ZH), Marie-Laure Papaux van Delden (GE), Bertrand Perrin (FR), Thomas Pfisterer (SG), René Rhinow (BS), Johannes Reich (ZH), Robert Roth (GE), Alexander Ruch (ZH), Beat Rudin (BS), Bernhard Rütsche (LU), Marco Sassoli (GE), Urs Saxer (ZH), Patrizia M. Schiess Rütimann (ZH), Benjamin Schindler (SG), Jörg Schmid (LU), Christian Schwarzenegger (ZH), Rainer Schweizer (SG), Marcel Senn (ZH), Madeleine Simonek (ZH), Andreas Stöckli (BS), Walter Stoffel (FR), Bernhard Sträuli (GE), Sarah Jane Summers (ZH), Marc Thommen (ZH), Christa Tobler (BS), Stefan Trechsel (ZH), Pierre Tschannen (BE), Axel Tsch- entscher (BE), Peter Uebersax (BS), Felix Uhlmann (ZH), Klaus Vallender (SG), Hans Vest (BE), Beatrice Weber-Dürler (ZH), Rolf Weber (ZH), Bénédict Winiger (GE), Judith Wittenbach (BE), Ul- rich Zimmerli (BE) (13.1.16 17:00)