In der Zeitung fand sich Ende letzter Woche ein Gastbeitrag von Walter Steinmann, Direktor des Bundesamts für Energie. Der Beitrag trägt den Titel "Energiepolitik als Gesellschaftprojekt" und behandelt Aspekte der Energiestrategie 2050. Angesichts der Komplexität dieses Geschäfts, das derzeit in den eidgenössischen Räten behandelt wird, erscheint eine unbefangene Auslegeordnung des Amtsdirektors hochwillkommen. Meine hohen Erwartungen wurden jedoch enttäuscht; vielmehr beschleicht mich das Gefühl, dass der Regierung der Revisionsprozess entglitten ist:
Da sich die Schweiz bis anhin am Modell der "Energiewende" orientiert hat, kommt die deutliche Distanzierung des Amtsdirektors eher überraschend: Das "anrüchige" Image der Energiewende soll "zu Recht" bestehen. Entsprechend wäre nun wichtig zu wissen: Was ist in Deutschland konkret schief gelaufen? Was können wir aus den dort begangenen Fehlern lernen? Inwiefern hat sich unser Lernen in der Energiestrategie 2050 niedergeschlagen? Auf diese drängenden Fragen gibt der Gastbeitrag keine Antwort. Solange diese Antworten aber nicht kommen, wird man der Energiestrategie 2050 dasselbe wie der Energiewende vorwerfen können: Dass sie nur eine "Worthülse" sei. Dies illustriert vor allem eine Aussage wenige Sätze weiter:
Ich habe keinen Anlass, an den Worten des Amtsdirektors zu zweifeln. Ich frage mich dann aber doch, wieso in der Schweiz der Strom aus Photovoltaikanlagen noch mit bis zu 23,4 Rp./kWh vergütet wird? Die Antwort auf diese Diskrepanz dürfte im Passus "an besten Sonnenexpositionen" liegen: Wo werden Anlagen an besten Expositionen wohl stehen? In der Wüste? Im Hochgebirge? Wüstenlagen sind für die Schweiz so irrelevant wie die Grösse des Baikalsees für unsere Trinkwasserversorgung. Hochgebirgslagen werfen das Schlaglicht auf nicht ausdiskutierte Konflikte: Wollen wir in unseren Hochalpen überall Sonnenkollektoren? Wollen wir sie nur an Lawinenverbauungen oder auch freistehend in der Gotthardebene? Reicht es, wenn wir für die Sonnenenergie nur unsere Dachflächen im manchmal nebligen Flachland nutzen?
Die unregelmässige Einspeisung der Photovoltaikanlagen erwähnt der Amtsdirektor nur als Problem für die Netzstabilität, aber nicht als Problem für die Versorgungssicherheit. Für beide Probleme hat er keine Lösung. Zur Gewährleistung von Versorgungssicherheit mag es allenfalls möglich sein, dass sich die Wind- und Sonnenenergie gegenseitig ausbalancieren lässt. Doch stösst die Erstellung von Windkraftanlagen auf erheblichen Widerstand in der Bevölkerung. Allenfalls können wir überschüssige Wind- und Sonnenenergie in Pumpspeicherwerken für Zeiten der Flaute zwischenspeichern; im derzeitigen Marktumfeld will jedoch niemand solche Werke bauen. Ganz allgemein erscheint die Wasserkraft im weiteren Ausbaupotenzial sehr limitiert. Es scheint auch so, dass uns bei der Geothermie die Felle davon schwimmen. Werden wir zukünftige Versorgungslücken also mit Importen aus einer EU decken, die uns - nicht nur in Sachen Stromabkommen - zurzeit unfreundlich gegenüber steht? Wird dieser zukünftig importierte Strom - das wäre das Tüpfelchen auf dem i - aus Kernenergie oder Kohle erzeugt?
Es wäre langsam Zeit für eine Bestandesaufnahme, was von der Energiestrategie 2050 zum heutigen Zeitpunkt überhaupt noch realisierbar ist - und zu welchen Kosten. Die Bevölkerung ist darüber proaktiv und transparent zu informieren; eine stark verkürzte Darstellung könnte sich dem Vorwurf der Propaganda aussetzen. Dies bringt mich zum letzten Zitat aus dem Gastbeitrag:
Der Satz bringt eine fundamentale Fehleinschätzung zum Ausdruck. Keine "Politik" wird zu einem "Gesellschaftsprojekt", solange sie nicht gesellschaftlich akzeptiert ist. In der Schweiz wird die Akzeptanz politischer Projekte aber üblicherweise an der Urne zum Ausdruck gebracht. Diesen Schritt will die Politik aber bewusst vermeiden. Es ist heute mehr als fraglich, ob die Energiestrategie 2050 jemals durch eine Volksabstimmung legitimiert wird. Ohne den legitimierenden Schritt der Volksabstimmung muss aber auch nicht erstauen, dass - wie implizit aus dem Zitat hervorgeht - die Energiestrategie 2050 zum Spielball von "Partikular- und Profilierungsinteressen" wird. Wie könnte man sonst erklären, dass z.B. Biogasanlagen mehr Subventionen bekommen sollen, wenn sie nur Hofdünger verwerten? Solches ist kein "zeitgemässer Ansatz einer integralen Energiepolitik", sondern vielmehr Ausdruck einer Selbstbedienungsmentalität bestimmter, gut organisierter Gruppen. Die Schelte des Amtsdirektors richtet sich hier praktisch an die gesamte Bundesversammlung ("Wende- und Anti-Wende-Politiker"). Zuversichtlich vermag mich dies nicht zu stimmen.
St.Gallen, 21. August 2015