Vermutlich schon ab 1. Juli 2015, mit Inkrafttreten des europäischen Kodex zu Kapazitätsallokation und Engpassmanagement im europäischen Stromnetz, wird die Schweiz generell von der sog. "Marktkopplung" ausgeschlossen. "Marktkopplung" (Market Coupling) bedeutet, dass gleichzeitig mit dem eingekauften Strom auch die für den Transport des Stroms notwendige Netzkapazität bezogen wird. Ohne Marktkopplung müssen also die gewünschte Strommenge und das Netz von den Energieunternehmen separat eingekauft werden. Das ist nicht nur ineffizient; es macht auch die ansässigen Energiehandelsaktivitäten sowie die profitable Vermarktung des Schweizer Stroms schwieriger. Der Handel wird aber nicht unmöglich: eine autarke Strominsel wird die Schweiz allein durch den Ausschluss von der Marktkopplung nicht.
Die Schweiz durfte bisher versuchsweise an einer Marktkopplung für den Intraday-Handel an den Grenzen Schweiz-Deutschland und Schweiz-Frankreich mitmachen. Es ist unklar, wie lange diese Teilnahme noch möglich sein wird. Von der Marktkopplung im (lukrativeren) Day-Ahead-Handel blieb sie von vornherein ausgeschlossen. Für eine Teilnahme an der Marktkopplung ist ab 1. Juli 2015 zwingend eine Vereinbarung mit der EU erforderlich. Jedoch erweisen sich der Abschluss eines Stromabkommens und selbst eines Interimsabkommens in diesem Bereich als illusorisch. Die EU beharrt vor einem neuen bilateralen Abkommen auf allgemeinen Lösungen im institutionellen Bereich und bei der Personenfreizügigkeit. Man könnte nun freilich die EU eines unfairen Powerplays beschuldigen. Jedoch hat auch die Schweiz mit der noch in den Sternen stehenden vollen Elektrizitätsmarktöffnung einen wesentlichen Aspekt des Energiebinnenmarktes nicht umgesetzt. Damit bleibt eine zwingende Voraussetzung für die Marktkopplung auf absehbare Zeit unerfüllt.
Die unmittelbaren negativen Auswirkungen der ausbleibenden Integration in den europäischen Energiebinnenmarkt dürften sich in Grenzen halten. Betroffen sind zunächst vor allem diejenigen Unternehmen der Energiewirtschaft, die stark im Handel engagiert sind. Für die Bevölkerung dürfte der Wohlfahrtsverlust – jedenfalls gemäss Schätzungen von ACER und ENTSO-E – gering bis sehr gering ausfallen. Dennoch betonen die Swissgrid, das BFE (in energeia 3/2015, S. 12 f.) und der Bundesrat die aus ihrer Sicht wichtige Ankopplung an den europäischen Energiebinnenmarkt. Bei dieser Einschätzung dürften vor allem die Unabwägbarkeiten in langfristiger Sicht ausschlaggebend sein. Bei der gegebenen Ausgangslage wäre dem noch lange Zeit nicht erreichbaren Stromabkommen aber nicht unnötig lange nachzutrauern, sondern es wären Alternativen zu entwickeln. Diese sollten vor allem auf die Stärkung der eigenen Versorgungssicherheit abzielen.
St.Gallen, 26. Juni 2015
Die vorliegende Einschätzung beruht auf einem an der Universität St.Gallen erstellten Working Paper zur "Schweiz ohne Stromabkommen", das bald im Volltext verfügbar sein wird. Der Text wurde an eine am 26. Juni 2015 erhaltene Auskunft hinsichtlich der impliziten Allokation an den Grenzen Schweiz-Deutschland bzw. Frankreich angepasst.