Am 4. Dezember 1972 wurde die Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle (Nagra) gegründet. Sie ist beauftragt, Lösungen für eine sichere, dem Menschen und der Umwelt verpflichtete Entsorgung in der Schweiz zu erarbeiten und zu realisieren. Diesem Auftrag ist die Nagra bisher nicht nachgekommen. Seit den zwei verlorenen Urnengängen zum Wellenberg, wo es trotz massivem Geldeinsatz nur gelungen ist, die lokale, nicht aber die kantonale Bevölkerung für ein Endlager zu "begeistern", ist die Nagra in ihrer Standortsuche nicht entscheidend weiter gekommen. Am 9. September 2015 wurde die Nagra nun gar verpflichtet, für die Standortevaluation in den Regionen Jura Ost und Zürich Nordost weitere Unterlagen nachzureichen. Nach über 40 Jahren der vergeblichen Suche und angesichts des bevorstehenden "Atomaustiegs" (soweit man davon noch sprechen kann) scheint es irgendwie an der Zeit, das Konzept "geologisches Tiefenlager" einmal ganz neu zu überdenken.
Der Wunsch nach einem geologischen Tiefenlager ist weniger technisch als vielmehr ethisch begründet, weshalb sich ein Jurist dazu äussern kann. Und nur hoffnungslos pessimistische Juristen werden sich an der intellektuellen Basis des Lagerkonzepts nicht stören: Die Nagra geht nämlich davon aus, dass nur die Lagerung in geologisch stabilen Gesteinen die Langzeitsicherheit von radioaktiven Abfällen über 200'000 Jahre (!) gewährleistet. Die Proponenten der Tiefenlager machen dabei keinen Hehl daraus, dass staatliche und gesellschaftliche Institutionen diese Sicherung nicht ausreichend gewährleisten können. Nach ihrer Vorstellung wird die Menschheit offenbar fast unweigerlich untergehen, was auf der Homepage der Nagra lächerlich vereinfacht illustriert ist:
Es ist diese resignativ-endzeitliche Stimmung, die allgemein den Umgang der europäischen Gesellschaft mit Risiken prägt und welcher Intellektuelle und Politiker total verfangen scheinen. Diese Sehnsucht nach der Apokalypse steht jedoch in starkem Widerspruch zu den Ergebnissen, welche durch das bewusste Eingehen von Risiken erzielt wurden und welche der Menschheit bislang unerreichten Wohlstand bescherten. Dennoch haben die Untergangspropheten Aufwind: Zu nennen sind hier leider nicht nur wissenschaftliche Werke wie die "Risikogesellschaft" von Ulrich Beck; so beschreibt im Bereich der Belletristik mein Lieblingsautor David Mitchell ebenfalls mit grosser Kunst postapokalyptische Gesellschaften ("Cloud Atlas" und "The Bone Clocks"). Wer das nicht liest, wird in der Neuauflage von Mad Max mit der Endzeit konfrontiert. Dessen ungeachtet: Befürworter von Tiefenlagern verfallen im Grunde genommen genau derselben Hybris, die sie den Nuklear-Ingenieuren vorwerfen: Wie nur kann nämlich jemand gleichzeitig die Nichtbeherrschbarkeit nuklearer Risiken konstatieren und zugleich glauben, menschengeschaffene Lagerungskonzepte und Bauwerke könnten einen Horizont von 200'000 Jahren abdecken!
Entsprechend kann die ethisch vertretbare Lösung für Kernabfälle kaum darin bestehen, das Problem auf ewige Zeiten vergraben zu wollen. Sicher gelagert werden können Kernabfälle eben nicht fernab, sondern möglichst nahe an den Zentren staatlicher (d.h. militärischer oder polizeilicher) Macht. Das Zwischenlager in Würenlingen ist - mit gewissen Modifikationen - einer von wohl mehreren möglichen Orten, wo Kernabfälle sicher verbracht werden könnten. Je länger die Suche nach einem Tiefenlager noch andauert, desto wahrscheinlicher ist es auch, dass das Zwischenlager tatsächlich zum Endlager wird. Die Kenntnisnahme dieser faktischen Konsequenz führt dann notgedrungen zur Anerkennung, dass der Umgang mit Kernabfällen eine dauerhafte staatliche Aufgabe bleiben wird.
St.Gallen, 23. Oktober 2015