Kurz vor den Wahlen musste doch tatsächlich noch ein Grüppchen polternder Politiker eine Volksinitiative mit dem Titel "Ja zum Verhüllungsverbot" lancieren. Die geplante Volksinitiative reitet auf dem Erfolg der ähnlichen, mittlerweile durch die eidg. Räte gewährleisteten Tessiner Bestimmung (Art. 9a KV TI). Rückenwind hat die Initiative auch aufgrund eines Urteils des Menschenrechtsgerichtshofs (sic!), der ein entsprechendes Verbot in Frankreich billigte. Selbst eine überwältigende Mehrheit der Blick-Leser scheint ein Verhüllungs-Verbot zu begrüssen (Abbildung oben). Der Autor dieses Blogs kann dem nichts positives abgewinnen.
Verankert werden soll das Burka-Verbot ausgerechnet im Katalog der Grund- und Freiheitsrechte. Es wird also in dem Bereich der Bundesverfassung platziert, der primär die Abwehr von staatlichen Übergriffen in die persönlichen Verhältnisse ermöglicht. Zu diesem Widerspruch passt dann auch gut, dass das Verbot vor allem von Personen propagiert wird, die sich die Freiheit ganz gross auf die (Schweizer) Fahne geschrieben haben. "Kein freier Mensch verhüllt sein Gesicht" schreibt der wohl prominenteste Vertreter des Initiativkomitees auf seiner Homepage.
Was soll das für eine Freiheit sein, wenn sie nur in Anspruch genommen werden kann, solange die Mehrheit diese Freiheitsausübung akzeptiert oder mindestens toleriert? Was bleibt von der Freiheit übrig, wenn sie beliebig durch Beschlüsse einer Mehrheit umgeformt oder beschränkt werden kann? Sind die Freiheitsrechte nicht gerade ein Bollwerk zur Abwehr unangemessener Forderungen einer wie auch immer zusammengesetzen Mehrheit?
"Freiheit ist unteilbar", hat John F. Kennedy vor dem Rathaus Schöneberg am 26. Juni 1963 den Berlinerinnen und Berlinern zugerufen. Freiheit kann nicht einzelnen Personen gewährt werden und anderen Personen nicht. Sie kann auch nicht für einzelne Bereiche zugestanden werden und für andere Bereiche nicht. Jede Freiheit, die ich meinen Mitmenschen nehme, habe ich auch selbst verloren. Was soll ich also von Politikern halten, die sich zu einer freien Wirtschaftsordnung bekennen, die aber ihren Mitmenschen vorschreiben wollen, wie sie sich zu kleiden haben? Gesellschaftliche und wirtschaftliche Freiheit sind zwei Seiten derselben Medaille. Wer das nicht einsieht, hat auch nichts von der Freiheit verstanden.
St.Gallen, 2. Oktober 2015