Wir wussten, dass dieser Anschlag passieren würde, und konnten ihn nicht verhindern. Wir wissen auch, dass ein solcher Anschlag wieder verübt wird. Unsere Reaktionen werden dieselben sein: Solidaritätsbekundungen in der Presse, in den sozialen Medien und auf der Strasse. Bekenntnisse und Aufrufe zur Verteidigung der Freiheit. "Der Terror darf keinen Einfluss auf das Handeln und Denken des Einzelnen bekommen - sonst ist die Freiheit verloren", schreibt der Spiegel in einem Kommentar.
Doch unser Denken hat sich längst verändert. Mit dem Tod der vier Zeichner von "Charlie Hebdo" sind auch die verbliebenen Fahnenträger für die Freiheit geschrumpft. Der Kampf um unsere wichtigste zivilisatorische Errungenschaft entscheidet sich nämlich nicht heute, da wir erschüttert, traurig, solidarisch und vorbehaltlos für die Pressefreiheit einstehen. Dieser Kampf entscheidet sich morgen, wenn wir über weitere Ausdehnungen des Sicherheitsapparates debattieren und uns entscheiden müssen, ob wir kommende satirische Provokationen schützen oder verurteilen wollen.
Wie bereitwillig haben wir doch seit dem 11. September 2001 Freiheit gegen trügerische Sicherheit eingetauscht. Unbekümmert werden wir ein weitgreifendes Nachrichtendienstgesetz verabschieden und uns einer intensiven Überwachung unserer Kommunikation (BÜPF) unterwerfen. Im Namen der Sicherheit tolerieren wir, dass ein "befreundeter Dienst" die Telekommunikation in der Deutschschweiz überwacht, abseits jeder rechtsstaatlichen Kontrolle. Unsere Sehnsucht nach Sicherheit schwächt nicht zuletzt auch die freie Presse. Die Risikoforschung sagt uns, dass wir einen irrational hohen Preis zu zahlen bereit sind, um ein Risiko (vermeintlich) auf Null zu senken. Und doch wissen wir im Innersten, dass wir auch den nächsten Schlag werden hinnehmen müssen, denn selbst ein totaler Staat vermag nicht totale Sicherheit zu garantieren. Verzweifelt wollen wir nun mit Minarett- und Burkaverboten sowie einer präzedenzlosen Härte gegenüber Flüchtlingen zurückschlagen und merken nicht, dass wir die Freiheit dadurch mit Füssen treten. Wir sind pragmatisch geworden im Umgang mit der Freiheit; wir relativieren.
Die Verteidigung der Freiheit ist nicht einfach an einen staatlichen Sicherheitsapparat delegierbar. Dies zeigt sich schon darin, dass es selbst eine Bundesrätin nicht schafft, den Anschlag ganz ohne Vorbehalt zu verurteilen. Die Umsorgung der Freiheit obliegt der Zivilgesellschaft: Jedem von uns. Doch wer nimmt den Faden auf, den Charlie Hebdo nun fallen lassen musste? Auffällig ist doch, dass sich kaum eine Zeitung gestern getraut hat, auch nur eines der provokativen Frontcovers von Charlie Hebdo abzudrucken (Presseschau des TA hier). Auch ich gehöre nicht zu den Mutigen. Wir wollen für die Freiheit kämpfen, doch sie entgleitet uns. Wir befinden uns in einem Abnutzungskrieg, und wir sind am verlieren.
St.Gallen, 9. Januar 2014