Ochlokratie ("Pöbelherrschaft") ist ein abwertender Begriff für die Herrschaft der Massen, die ihre politischen Entschlüsse als Mehrheit oder mit Gewalt durchsetzt. Polybios stellt die Ochlokratie als entartete Demokratie dar, in der die Orientierung am Gemeinwohl verloren geht und stattdessen Eigennutz und Habsucht das Handeln der Bürger bestimmen. Ochlokratie ist der wohl passende Begriff dafür, wie ein Teil der politischen Elite im In- und Ausland heute die "Schweizer Volksherrschaft" wahrnimmt. Die Anzahl der Volksbegehren, die fest etablierte Institutionen erschüttern (wollen) und deren Annahme mit guten Gründen als "falsch" angesehen werden kann, häuft sich jedenfalls (so diese Woche z.B. die Ankündigung von zwei Initiativen durch Anita Chaaban, wonach Richter für Fehlentscheide persönlich haften sollen).
Man macht es sich zu einfach, diese Entwicklungen als Beginn eines Verfalls der Demokratie und einer zunehmenden Unreife des Stimmbürgers zu sehen. Bei näherer Betrachtung kann in diesen Volksbegehren auch ein tiefes Misstrauen gegenüber den hiesigen Eliten erblickt werden. Auffällig ist:
- Das Vertrauen in eine rasche Umsetzung der Initiativen fehlt: Der Bundesrat wird sofort oder nach einer kurzen Reaktionszeit für das Parlament mit der Umsetzung der Initiative beauftragt (z.B. "Keine Spekulation mit Nahrungsmitteln!", "Gegen Masseneinwanderung", "1:12 - Für gerechte Löhne");
- Das Vertrauen in eine getreue Umsetzung der Initiativen fehlt: Die Umsetzungsspielräume für Behörden und Richter werden deshalb stark beschränkt und Abwägungen zur Herstellung sachgerechter und verhältnismässiger Lösungen im Einzelfall soweit möglich ausgeschlossen ("für die Ausschaffung krimineller Ausländer (Ausschaffungsinitiative)", "Zur Durchsetzung der Ausschaffung krimineller Ausländer (Durchsetzungsinitiative)", "Schluss mit uferlosem Bau von Zweitwohnungen!", "gegen die Abzockerei").
Nachdem das Bundesgericht im Fall X gegen Thurgauer Migrationsamt dem Willen der Initianten der Auschaffungsinitiative - die ich persönlich übrigens ablehne - sehr wenig Gewicht zugemessen hat, ist es nur eine Frage der Zeit, bis Initianten einen absoluten Vorrang ihres Anliegens im Initiativtext verankern und diesen explizit als unmittelbar anwendbar erklären (So teilweise schon bei der "Durchsetzungsinitiative"). Die Verfassung würde dann ihre Funktion als vom Gesetzgeber zu konkretisierende "Grundordnung" verlieren und zum reinen Wutventil des Bürgers degradiert.
Ist diese Entwicklung umkehrbar? Statt angenommene Volksinitiativen im politischen Prozess oder in der Umsetzung zu verwässern könnte versucht werden, diesem eingetretenen Vertrauensverlust zu begegnen. Dabei ist die rasche Behandlung und getreue Umsetzung von Volksinitiativen im Parlament nur ein Element. Vertrauen gewinnt, wer Standfestigkeit in übergeordneten strategischen Fragen beweist und sich nicht im Micromanagement komplexer Prozesse und in einer nicht endend wollenden Woge an Gesetzgebungsprojekten verliert. Vertrauen verdient, wer Positionen authentisch und nicht im Hinblick auf die Wiederwahl vertritt, aber dennoch zu sachgerechten Kompromissen in der Lage ist. Vorbild ist, wer selbst Respekt vor unterschiedlichen Auffassungen, Lebensweisen und privaten Rechtspositionen zeigt und damit überbordenden Anliegen von Dritten glaubwürdig entgegen treten kann. Die radikalen Stimmen würden dann, so bin ich sicher, leiser.