Heute werde ich an den 4. Luzerner Agrarrechtstagen zum geltenden Agrarverfassungsrecht sprechen. Die Tagung stellt die angekündigten agrarpolitischen Initiativen von Bauernverband/SVP und von den Grünen ins Zentrum. Die beiden Initiativen weisen Parallelen auf und strotzen vor kaum auflösbaren Zielkonflikten. Bezüge bestehen vor allem zum Begriff der "Ernährungssouveränität", der mit der Agrarpolitik 2014-2017 Eingang in Art. 2 Abs. 4 LwG gefunden hat. Konzepte, die dadurch angesprochen, sind in etwa die folgenden:
- Selbstbestimmte Produktionsentscheide vor globalisiertem Wettbewerb ("fair trade")
- Lokale Produktion vor weltweiten Importen ("Selbstversorgung", "Globalisierungsdruck")
- Kleinbauern vor Grossbauern ("faire Arbeitsbedingungen")
- Nachhaltige, umweltgerechte Produktion vor zerstörerischer Massenproduktion
- Qualitativ hochstehende Nahrungsmittel in genügendem Ausmass ("Ernährungssicherheit")
Die obige Liste ist weder abschliessend noch werden die Punkte von allen "Bannerträgern" notwendigerweise gleichermassen geteilt (so auch der Bundesrat in seiner Botschaft zur AP2014, 2160 ff.). Was "Ernährungssouveränität" eigentlich bedeutet, bleibt auch bei näherer Betrachtung unklar, ebenso die konkreten Massnahmen, die der Begriff implizieren soll. Klar ist lediglich, dass viele Teilgehalte dieser Anliegen schon heute durch die Verfassung zum Ausdruck gebracht werden (Art. 104 BV: Versorgung, Umwelt, Besiedlung). Angestrebt ist also lediglich eine Verschiebung der Gewichte. Doch in welche Richtung?
Die Schweizer Landwirtschaftspolitik ist selbstbestimmt. Der Abschluss völkerrechtlicher Vereinbarungen (WTO-Landwirtschaftsabkommen, Freihandelsabkommen mit der EU, etc.) steht einer selbstbestimmten Politik nicht entgegen, weil die Schweiz sich freiwillig gebunden hat. Die gegenseitige (bescheidene) Öffnung der Agrarmärkte hat zu einem grösseren und besseren Angebot an Nahrungsmitteln in der Schweiz geführt, was die Frage aufwirft: Geht die "Ernährungssouveränität" nicht einfach auf Rechnung der Konsumenten? Wer lokale Produktion vor weltweiter Konkurrenz schützen möchte, muss sich fragen, ob er denn auch auf französischen Käse zugunsten von Emmentaler oder auf Amarone zugunsten von Beerliwein aus der Bündner Herrschaft verzichten möchte? Der anspruchsvollere Konsument wird auch kaum die signifikanten Qualitätsverbesserungen preisgeben wollen, zu der ein schwächerer Grenzschutz und stärkerer Wettbewerb massgeblich beigetragen haben. Wer hätte gedacht, dass junge unternehmerische Winzer auch in der Schweiz einmal tollen Wein produzieren könnten?
Wer vor allem Kleinbauern schützen möchte, wird sich entscheiden müssen, ob er denn die Kleinbauern in der Schweiz oder Honduras meint? Ein Schutz der Kleinbauern in der Schweiz ist ohne Grenzschutz nicht machbar, was auf Kosten der Bauern in Entwicklungsländern geht. Und wer in der "Ernährungssouveränität" einen möglichst hohen Selbstversorgungsgrad erblickt, wird sich den Einwand gefallen lassen müssen, dass ein hoher Selbstversorgungsgrad mit Hobby-Kleinbauern nicht erreichbar sein wird.
Auch ist weitgehend anerkannt, dass ein hoher Selbstversorgungsgrad in einem gewissen Widerspruch zum Anliegen der nachhaltigen Flächenbewirtschaftung steht und mit rein biologischer Landwirtschaft wohl eher weniger produziert würde. Und bedeutet nachhaltige Bewirtschaftung immer auch einen Verzicht auf Gentechnik, selbst wenn gentechnisch veränderte Pflanzen den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln reduzieren? Ist es umweltfreundlicher, einen spanischen Apfel in die Schweiz zu transportieren oder einen Schweizer Apfel das ganze Jahr in einem Schweizer Kühlhaus zu lagern?
Der Begriff "Ernährungssouveränität" ist unumstritten, gerade weil er mit beliebigen Zielen verbunden werden kann. Die Zielkonflikte, die der Begriff in sich birgt, sind aber immens und bis anhin kaum ausdiskutiert. Wer die Schweizer Agrarpolitik in eine bestimmte Richtung ändern möchte, wird viel konkreter sagen müssen, wo er denn genau hin will.