"Jede Dritte Frau in Europa leidet unter Gewalt" titelten am Mittwoch der Tagesanzeiger und diverse andere Medien. Das den Artikel begleitende (Symbol-)Bild zeigt einen direkten körperlichen Übergriff auf eine Frau. Man(n) ist schockiert. "Schock-Studien" geben manchem Medium die nötige Würze und erhaschen offenbar wirksam die ungeteilte Aufmerksamkeit des Lesers; entsprechend oft werden Studien zitiert:
- "Zürcher Studie: Zappelphilipp-Syndrom bei Erwachsenen häufiger als vermutet" (NZZ, 4. März 2014)
- "Streit um Feinstaub-Studie Schlechte Luft wegen Tempo 30" (FAZ, 5. März 2014)
- "Vegetarier sind häufiger krank als Fleischesser" (20min, 1. März 2014)
- "Studie fragt Studis: Ist Hirndoping fair?" (20min, 27. Februar 2014)
- "ETH-Studie besagt: Schweizer diskriminieren Deutsche im Alltag nicht" (Aargauer Zeitung, 27. Februar 2014)
- "Welche Büros krank machen" (Der Bund, 28. Februar 2014)
- "Ist die Schweizer Armee schwulenfeindlich?" (20min, 24. Februar 2014)
- "Studie zeigt: Finanzkrise lässt Griechen erkranken" (20min, 21. Februar 2014)
- Verzicht aufs Rauchen macht laut Studie glücklicher (gmx, 14. Februar 2014)
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- "Social Media macht kindisch und süchtig" (Tages-Anzeiger, 10. April 2013)
- "Neuer Risikofaktor für Autismus entdeckt" (Tages-Abzeiger, 21. März 2013)
- "US-Studie: Schlafmangel macht hungrig - und dicker" (Blick, 12. März 2013)
- "Grosser Wurstkonsum erhöht laut Zürcher Studie das Sterberisiko (Blick, 7. März 2013)
- "Giftstoffe in Kinderregenjacke der Migros" (Tages-Anzeiger, 13. Februar 2013)
- "Neue Studie: Kaiserschnitt kann krank machen!" (Blick, 12. Februar 2013)
- "Die Outdoor-Jacke" macht krank (Tages-Anzeiger, 20. November 2012)
Kürzlich hat sich die Tagung "Wissenschaftskommunikation im Wandel" mit dieser zuweilen reflektions- und kritiklosen Übernahme wissenschaftlicher Erkenntnisse in der journalistischen Arbeit befasst. So werden Resultate von Studien einseitig und meist als Pionierarbeiten dargestellt; die wissenschaftliche Unsicherheit wird ausgeblendet (Siehe hier den zusammenfassenden Artikel "Wie Wissenschaftler herausfanden…"). Links zu den Studien oder Worte wie "Signifikanzniveau" und "Standardfehler" finden sich tatsächlich in den meisten Medienberichten nicht. Dies hat zur Folge, dass der kritische Leser kaum herausfinden kann, ob es sich bei den Studien einfach um "Junk Science" handelt (wie z.B. bei einer Studie zur Korrelation von Schokoladekonsum und Nobelpreisträgern in einem Land). Die Qualität der Datenbasis ("garbage in, garbage out") wird ein Leser von vorneherein nicht einschätzen können. Er muss sich folglich in einem ständigen Angstzustand über dieses oder jenes neu erkannte Gesundheitsrisiko befinden... oder er blendet all die präsentierten Ergebnisse einfach aus und lebt weiter wie zuvor.
Dieser Beitrag bezweckt nicht Medienbashing, sondern etwas anderes: Studien der genannten Art finden nämlich nicht nur Aufnahme in die Medien, sondern bilden auch die Grundlage von Politikentscheiden. Namentlich im Bereich der Gesundheitsprävention wird die Ausgestaltung von rechtlichen Regimes häufig auch wissenschaftlich begündet (man denke an Mindestpreise oder Nachtregimes für Alkohol sowie an amtliche Ernährungshinweise und -empfehlungen). Heute jedoch ist die Anzahl verschiedener Studien, die jeweils unterschiedliche und sich widersprechende Politikempfehlungen beinhalten, schier unüberblickbar. Dies vermittelt der Verwaltung eine grosse Machtfülle, weil sie ihre regulatorischen Vorstösse relativ problemlos auch wissenschaftlich legitimieren kann. Für die Auswahl und Bewertung wissenschaftlicher Ergebnisse bestehen aus rechtlicher Sicht keine normativen Kriterien. Dadurch muss namentlich die gerichtliche Kontrolle solcher Verwaltungsentscheiden leer laufen (siehe dazu bisher einzig den Artikel hier). Soll dieser "Definitionsmacht" der Verwaltung etwas entgegengesetzt werden, werden Richter nicht umhin kommen, sich vermehrt auch mit statistischen Methoden zu befassen.
Foto Credit: Zenit (Eigenes Werk) [GFDL oder CC-BY-SA-3.0-2.5-2.0-1.0], via Wikimedia Commons