"Was sollen ihre Anwälte in erster Linie leisten?" Auf diese Frage hat ein CEO eines grösseren Unternehmens tatsächlich geantwortet: "Dass ich ohne Gefängnisstrafe in Pension gehen darf." Die Antwort überrascht weniger, wenn man weiss, dass der CEO ein verwaltungsstrafrechtlich gebranntes Kind ist (die Details wollen wir uns ersparen). Dennoch ist sein Auftrag an die Anwälte strategisch falsch, da Anwälte dann eine Nullrisiko-Strategie fahren. Es ist auch den besten Anwälten nicht möglich, die rechtlichen Risiken eines Unternehmens tatsächlich zu beherrschen. Mit anderen Worten müssten Anwälte in der Lage sein, klar zwischen zulässigem und unzulässigem Verhalten zu unterscheiden. Das ist vor allem im Wirtschaftsrecht immer häufiger nicht der Fall. Rechtliche Normen sind hier teilweise hochgradig unbestimmt. So unbestimmt, dass die Swiss kürzlich gerichtlich geltend gemacht hat, dass sie eigentlich gar nicht wisse, was man von ihr genau verlange. Ein gutes Beispiel für unbestimmte Standards sind auch die Sicherheitsstandards für Produkte, also etwa Fleischmesser in der Küche:
Küchenmesser bergen schon per se die Gefahr von kleineren Schnittverletzungen, was aber noch nicht zur Verletzung des verlangten Sicherheitsstandards führt (Botschaft, 7436). Jedoch zeigt schon eine kleine Google-News Recherche, dass Küchenmesser auch häufig als Waffe Verwendung finden. Dies ist zwar ein Fehlgebrauch, doch keineswegs ein unvorhersehbarer Gebrauch (Botschaft, 7442). Sodann muss bei der Prüfung der Sicherheit eines Produkts berücksichtigt werden, dass Küchenmesser auch in die Hände von Kindern gelangen können. Schliesslich zeigen neuere Studien, dass Küchenmesser mit stumpfen Ende wesentlich weniger gefährlich wären (auch als Mordwaffe). Spitz zulaufende Messer entsprechen heute also nicht mehr dem vom Gesetzgeber verlangten "Stand des Wissens und der Technik" (Art. 3 Abs. 2 PrSG).
Kein Anwalt bei Verstand wird also heute noch schriftlich bestätigen, dass ein scharfes Fleischmesser die Gesundheit der Verwender nicht geringfügig gefährdet. Das Produkt darf so nicht in Verkehr gebracht werden. Will der CEO eines Messerherstellers keine Gefängnisstrafe riskieren (Art. 16 PrSG), sollte der Anwalt zum sofortigen Produktionsstopp und Produkterückruf raten (Art. 8 PrSG). Nur auf diese (unsinnige) Weise kann das Rechtsrisiko beseitigt werden.
Die Arbeit eines guten Anwalts wird heute nicht mehr bei der Identifikation von Rechtsrisiken stehen bleiben. Ein guter Anwalt wird die Wahrscheinlichkeit der Geltendmachung eines Gesetzesverstosses abschätzen und mit Blick auf die wahrscheinlichen Sanktionen die so entstehenden Rechtsrisiken managen helfen. Auch ein sorgfältiger CEO kann Rechtsrisiken heute nicht mehr ganz vermeiden. Wir leben im Zeitalter der "probabilistischen Jurisprudenz".