Diese Herbstsession hat sich der Nationalrat über die Revision des Verjährungsrechts gebeugt und am 25. September 2014 schliesslich bestimmte Anpassungen beschlossen. Die Diskussion wird beeinflusst von einem Urteil des Menschenrechtsgerichtshof vom 11. März 2014; dieser hat bei einem Asbestopfer die Verjährungsfristen aufgrund der Spätschäden als zu kurz angesehen (Howald Moor und Andere v. Schweiz). Das Verjährungsrecht müsse die Geltendmachung solcher Spätschäden ermöglichen, ansonsten sei das Menschenrecht auf einen Zugang zu einem Gericht verletzt (Art. 6 EMRK). Das Gericht legt die Verfahrensgarantie damit ziemlich sportlich aus, ist doch aus deren Wortlaut kaum eine entsprechende Aussage abzuleiten.
Unter anderem soll nun die absolute Verjährungsfrist von 10 Jahren bei Körperverletzungen oder Tötungen von Menschen verlängert werden. Der Bundesrat wollte eine Frist von 30 Jahren, der Nationalrat hat nun eine Verlängerung auf 20 Jahre beschlossen. Beides wird dem Menschenrechtsgerichtshof nicht genügen, weil er eine flexible Verjährungsfrist bei Härtefällen fordert. Dies war auch einigen Parlamentariern bewusst, die als Minderheitsanträge Verjährungsfristen bis zu 50 Jahren in die Debatte einbrachten. Solch lange Fristen erscheinen lebensfremd; so ist z.B. der Nachweis des Kausalzusammenhangs zwischen schädigender Handlung und einem Krebsleiden nach 50 Jahren kaum noch zu erbringen.
Für einen in zivilrechtlichen Verjährungsfristen unbewanderten Verwaltungsrechtler wie mich ist diese Diskussion ein Nebenschauplatz. Angesichts der überragenden Bedeutung von Art. 6 EMRK für die schweizerische Rechtsentwicklung ist viel spannender, wie die Richter in Strasbourg - einschliesslich der Schweizer Richterin - in den Verjährungsfristen eine Verletzung dieser Norm erblicken können. In Art. 6 EMRK ist von der Verjährung nicht die Rede. Kommt hinzu, dass die Zuordnung der Verjährung zu dieser Verfahrensgarantie einige dogmatische Luftsprünge erfordert, da diese üblicherweise nicht dem Verfahrensrecht zugeordnet wird. Das Gericht setzt hier allerdings nicht nur ein neues Beispiel für seine expansive Auslegung der Menschenrechtskonvention. Es folgt auch einer allgemeinen Tendenz in der Staatsrechtslehre, mehr und mehr konkrete Vorgaben aus den doch sehr offen formulierten Verfassungs- und Konventionstexten zu lesen. Ein solches Vorgehen sprengt schnell den Rahmen zulässiger juristischer Auslegung. Wenn in jedem Rechtsproblem auch ein Verfassungsproblem erblickt wird, so könnte man darin auch - nach der schon vollzogenen "Machtergreifung des öffentlichen Rechts" - eine unzulässige "Machtergreifung der Verfassungsrechtler" erblicken.
St.Gallen, 10. Oktober 2014