Letzten Sonntag hat der schon am 1. Oktober veröffentlichte, jüngste Bericht der Eidgenössischen Ernährungskommission seinen Weg in die Presse gefunden und dort erheblichen Wirbel verursacht (z.B. NZZaS, Blick). Am Mittwoch stellte der Blick die "Anti-Fleisch-Experten des Bundes" gar an den öffentlichen Pranger. Für einmal ist die - selten in der Boulevard-Presse hinterfragte - Wissenschaftlichkeit der zugrundeliegenden Studien ein grosses Thema (schon früherer Beitrag hier). In der Tat erstaunt, dass die behaupteten relativen Risiken des Fleischkonsums bei erstaunlichen 18% (Krebs) bis 29% (koronare Herzerkrankungen) liegen sollen (Bericht, S. 10). Damit scheint das Wurstessen genauso gefährlich wie das Passivrauchen, wo das Bundesamt für Gesundheit das relative Risiko bei 24% (Lungenkrebs) sieht (Nationales Programm Tabak 2008-2012, S. 11; Blog). Die nun nötige Diskussion sollte jedoch vor allem auch grundsätzlich die staatliche Präventionstätigkeit hinterfragen.
Natürlich dürfte der Bericht der Ernährungskommission wissenschaftlich angreifbar sein. Epidemiologische Methoden wurden für die Einschätzung der Ausbreitung ansteckender Krankheiten entwickelt und sind nicht ohne weiteres auf Lifestyle-Risiken übertragbar. Im Gegensatz zu Krankheiten wie Ebola entwickeln sich die Risiken eines ungesunden Lebensstils viel langsamer. Die Kohortenuntersuchung muss sich auf eine grössere Anzahl Menschen beziehen, die über mehrere Jahre beobachtet werden müssen und die ihr Verhalten in dieser Zeit nicht ändern dürfen. Der lange Zeitraum der Beobachtung macht es fast unmöglich, die Krankheit an einem bestimmten Risikoverhalten festzumachen und andere Krankheitsursachen auszuschliessen. Diese Problematik gilt für Studien über Essverhalten und Passivrauchen gleichermassen.
Von grundsätzlicher Natur ist jedoch der Einwand, dass solche Präventions-Empfehlungen ausschliesslich auf die Verlängerung menschlichen Lebens zielen, ohne Aspekte der Qualität zu berücksichtigen. Leicht geht vergessen, dass die durch gesundheitsbewusstes Verhalten gewonnen Jahre nicht in der Mitte des Lebens, sondern am Schluss angehängt werden müssen. Ob zusätzliche Jahre im Pflegeheim eine lebenslange Askese wettmachen können, wird jeder von uns für sich selbst beantworten müssen. Auch werden einige Menschen aus gesundheitsschädlichem Verhalten ("über die Stränge schlagen", "einen über den Durst trinken") eine erhebliche Befriedigung ziehen. Dies macht diese Personen nicht irrational und schutzbedürftig, sondern erst menschlich. Wir sollten nicht vergessen, dass keine epidemiologische Studie erfassen kann, was das Leben - für jeden einzelnen von uns - lebenswert macht. Die Prävention, so gut gemeint sie sein mag, kann in einem liberalen Staat nur begrenzt zulässig sein.
St.Gallen, 14. November 2014