Liebe Avenir Suisse
Ihr habt letzte Woche, am 19. März 2014, die (wohl rhetorische) Frage gestellt, was denn zweckmässige Regulierungen seien. Mit einem Kriterienkatalog wollt ihr "den Regulierungsdschungel der Schweiz durchleuchten und dabei die Spreu vom Weizen trennen, also eine Unterscheidung zwischen sinnvollen und unsinnigen Regulierungen treffen." Dabei bittet ihr den Leser um Hilfe bei der Suche nach Beispielen. Gerne möchte ich Euch helfen.
Vielleicht habt Ihr gesehen, dass die Rechtssammlung des Bundes seit einiger Zeit auf dem Internet verfügbar ist. Pickt Euch doch dort etwas heraus, z.B. die Lebensmittelregulierung mit ihren Myriaden von Detailvorgaben (z.B. bei der Anpreisung) oder die umfangreiche Heilmittelregulierung (z.B. ihre bürokratischen Vorgaben für klinische Versuche, die die Entwicklung neuer Medikamente hemmen, oder das Zulassungsverfahren, dass bei neuen Wirkstoffen über ein Jahr dauert und die Verfügbarkeit neuer Medikamente vermindert). Oder nehmt doch einfach das Plastiksäckleinverbot im Detailhandel, um mit etwas einfacherem zu beginnen: In der Schweiz, wo der Abfall in KVA vebrannt und nicht in Halden deponiert wird, ist dieses Verbot an Sinnlosigkeit kaum zu überbieten (dazu der Bundesrat etwas sachlicher schon hier und hier).
Natürlich war Euer Aufruf nicht ganz ernst gemeint. Ihr kennt selbstverständlich all diese Regulierungen, was Eure eindrucksvollen Studien zeigen. Gerne möchte ich daher meinen Senf zu Eurem Kriterienkatalog hinzugeben, der an ein britisches Lehrbuch (Baldwin/Cave/Lodge, Understanding Regulation, 2013) angelehnt ist.
Unklare Regulierungsziele
Ganz mit Euch einig gehe ich bei Eurer Aussage, dass die Ziele der Regulierung häufig unklar sind. Z.B. müssen Arzneimittel "qualitativ hoch stehend, sicher und wirksam sein". Wie sicher genau die Arzneimittel sein dürfen, welche Nebenwirkungen in Kauf genommen werden sollen, wissen wir nicht. Wir wissen nur, dass absolute Sicherheit nicht verlangt ist (Dazu mein älterer Beitrag hier). Ohne konkrete Zieldefinition kann aber auch nicht festgestellt werden, ob eine Regulierung effektiv und effizient ist. In vielen Fällen wird also Euer Assessment gemäss Kriterienkatalog schon bei dieser ersten Frage enden, was nicht besonders zielführend ist.
Fehlende Effektivität und Effizienz
Hinsichtlich Effektivität und Effizienz ist immerhin festzustellen, dass das SECO bei wichtigen Regulierungen vermehrt auch selbst eine Regulierungsabschätzung durchführt. Damit könnte an sich die Frage der Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit etwas geklärt werden. Diese Untersuchungen sind jedoch zeit- und kostenintensiv; meist fehlen Daten. Statt alle Regulierungen im Detail zu modellieren und durchzurechnen, wäre es vielfach hilfreicher, eine ökonomische Einschätzung anhand des etablierten Wissenstandes dieser Disziplin zu haben (ein ökonomischer Kompass sozusagen).
Auch wäre vermehrt daran zu arbeiten, dass Regulierungen in ihren Folgen von einer unabhängigen Stelle eingeschätzt werden (nach dem Vorbild eines Rechnungshofes). Wer nämlich die Regulierungsfolgenabschätzung der betroffenen Amtsstelle überlässt, wird schnell feststellen, dass diese nicht in allen Punkten koscher sein wird: Wer z.B. bei der Bankenregulierung als Nutzen die Verhinderung einer neuen Finanzkrise und einer Kernschmelze des gesamten Wirtschaftssystems anführt, gebraucht ein "Totschlagargument", unter dem sich nahezu jede regulatorische Massnahme rechtfertigen lässt.
Unzulässige Risikotransfers
Unter dem Titel "Risikoneutralität" wollt ihr verhindern, dass Risiken in unzulässiger Weise von den Unternehmen zum Regulator verschoben werden. Meiner Ansicht nach ist mittlerweile aber gerade das Umgekehrte die Regel! Wer heute z.B. eine neue Elektrizitätsleitung baut oder einen Smart Meter installiert, wird zunächst die ElCom um Erlaubnis fragen, weil diese mit der Netznutzungsentgeltregulierung darüber entscheidet, ob diese Kosten amortisiert werden dürfen. Die Investitionsentscheide im Strommarkt fällt heute der Regulator!
Auch in vielen anderen Fällen werden heute operative Entscheide von Regulatoren gefällt, während die sich daraus ergebenden Risiken den Unternehmen angelastet werden. Diese Regulatoren sind jedoch nur mit der Aufsicht, und nicht mit dem Management der regulierten Unternehmen beauftragt. Sie verfallen in eine unzulässige Feinsteuerung (hier mein früherer Blogbeitrag dazu).
Regulatorisches "Race to the Top"
Zuguterletzt fordert Ihr Spielraum für regulatorischen Wettbewerb, "insbesondere … Wettbewerb unter Regulatoren von verschiedenen Ländern." Offenbar seid ihr auch einem regulatorischen Wettbewerb innerhalb der Schweiz nicht abgeneigt. Jedoch bin ich mir nicht sicher, ob dies erwünscht sein kann: Denn noch schlimmer, als wenn keine Behörde sich für ein Problem zuständig fühlt, ist es, wenn sich gleich mehrere Behörden eines Problems annehmen. Meiner Erfahrung fördert ein solch positiver Zuständigkeitskonflikt das regulatorische "race to the top", das Ihr ja gerade verhindern wollt.
Im internationalen Bereich muss ich Euch jedoch zustimmen. Über die letzten Jahren haben sich in verschiedensten Märkten internationale Regulierungsbehördennetzwerke herausgebildet, die – meist ohne explizites Mandat des Gesetzgebers – Regulierungsstandards harmonisieren. Dieser "Zwang der globalen Standards", wie es Hansueli Schöchli in der NZZ schon thematisiert hat, ist der Effektivität und Effizienz der heutigen Regulierung nicht unbedingt zuträglich. Die Behördennetzwerke bedürfen wohl des verstärkten Augenmerks des formellen Gesetzgebers: Es sind nämlich auch schweizerische Behörden, die als unsere Vertreter in diesen Behördennetzwerken sitzen und dort quasi "Umsetzungsaufträge" zu Handen des Gesetzgebers formulieren. Damit wird die tradierte Verwaltungshierarchie jedoch umgedreht, unter Verlust der demokratischen Legitimation der so erarbeiteten globalen Standards.
In diesem Sinne, liebe Avenir Suisse, freue ich mich auf die Resultate Eurer Untersuchungen. Lasst Euch auf Eurem Weg nicht entmutigen!
Peter Hettich