Auch staatliche Organe treibt zum Jahreswechsel die Suche nach guten Vorsätzen um. Ein Ansatzpunkt für Selbstverbesserung ist die Gesetzgebung, und zwar nicht nur qualitativ (siehe hier der Beitrag von Alain Griffel), sondern schon rein quantitativ. Die Amtliche Sammlung enthält für das Jahr 2014 ganze 4022 Seiten an neuer Gesetzgebung des Bundes. Diese produktive Leistung wird keineswegs dadurch geschmälert, dass viele dieser Gesetzesseiten einfach bestehendes Recht ändern, aufheben und damit nicht unbedingt "neu" sind. Im Bundesblatt wurden weitere 9792 Seiten Text veröffentlicht, wovon sich ein Grossteil an das Parlament richtet und neue Gesetzgebung vorbereitet.
Da war im Jahr 2014 ein eindrücklicher Papierberg zu bewältigen. Diese knapp 14'000 Seiten müsste eine Parlamentarierin wohl mindestens lesen, um ihr Amt voll ausüben zu können. Diese Seiten machen allerdings nur einen Bruchteil des Papiers aus, das im Gesetzgebungsprozess geschrieben und gedruckt wird. Lesen müssten die Parlamentarier wohl viel viel mehr. Studierende der Universität müssen an die zehn Seiten Text pro Stunde lesen, verstehen und lernen können. Bei einem Arbeitstag von 8.4 Stunden sind das knapp 167 Tage (33.5 Wochen), welche die Parlamentarierin ins Lesen investieren muss - und dann hat sie sich erst mit der Meinung der Bundesverwaltung befasst! Die Vernehmlassungen aus Bevölkerung, Verbänden und Nichtregierungsorganisationen sind also noch nicht verarbeitet.
Dazu kommen die Sitzungen. im Jahr 2014 fanden die vier üblichen, ordentlichen Sessionen von je 3 Wochen statt. Der Nationalrat hatte noch eine Sondersession von einer Woche, also insgesamt 10 Wochen Debatten und Abtimmungen im Plenum. Nun werden aber die wichtigen politischen Entscheide ohnehin in den vorberatenden Kommissionen gefällt, die sich 3-4 Tage im Quartal treffen. Viele Parlamentarier dürften Mitglied von zwei solchen Kommissionen sein. Das Arbeitsjahr ist damit aufgebraucht. Dennoch soll das Ganze als Milizparlament funktionieren. Die Parlamentarier sollen also auch einen Beruf ausüben, neben Parlament und sonstiger politischer Arbeit.
Nun wird hier jeder seine eigenen Prioritäten setzen. Einige Parlamentarier werden die ihnen zugesandten Dokumente gewissenhaft lesen, um dossiersicher über neue Gesetze beraten zu können. Einige andere Parlamentarier werden das schlicht nicht tun bzw. nicht tun können. Die obige Milchbüchleinrechnung macht deutlich, dass ein Teil der Parlamentarier nur rudimentär Ahnung über die Materie gehabt haben dürfte, die im Jahr 2014 in den Räten zur Abstimmung kam. Für die Vorsätze im neuen Jahr dürfte dies heissen: Weniger tun, dafür richtig.
St.Gallen, 2. Januar 2015