Letzte Woche nutzte ich die schönen Herbsttage für eine Wanderung von Linthal (Glarus) über die Muttseehütte nach Breil/Brigels (Graubünden). Hat man das - mit Schnee nicht einfach zu bewältigende - Muttenwändli einmal hinter sich gelassen, präsentiert sich dem Wanderer die neu erstellte Staumauer des Muttsees. Die Mauer wird diese Tage fertiggestellt. Die beeindruckende Ingenieursleistung (Erhöhung Speichervolumen von 9 Mio. m3 auf 25 Mio. m3, Erhöhung der Leistung von 480 MW auf 1480 MW) lässt fast vergessen, dass die Anlage für einige Zeit sicher nicht rentieren wird.
Die Gründe für die Misere der Wasserkraft sind vielfältig und komplex. Der Markt wird derzeit von billiger Elektrizität überschwemmt, was zu tiefen Grosshandelspreisen führt. Geringe CO2-Preise und hohe Subventionen sind Gründe für die billige Elektrizität aus Kohle bzw. neuer erneuerbarer Energie. Auch sind die Nachfragespitzen zur Mittagszeit, deren Glättung traditionelles Geschäftsfeld der Pumpspeicherwerke darstellt, aufgrund der dann hohen Einspeisung aus Photovoltaikanlagen weitgehend verschwunden. Nichtsdestotrotz handelt es sich bei den Pumpspeicherwerken um Teile einer Infrastruktur, die nun über Jahrzehnte kostengünstige und jederzeit verfügbare Elektrizität in allen Landesgegenden zur Verfügung stellen konnte: Wahre Grundversorgung also.
Alles egal, darf man der NZZ am Sonntag vom 4. Oktober in ihrer Beilage zur "Energiezukunft" entnehmen. Die teuren Infrastrukturen in den Alpen seien überholt. Bald hätten ja alle eine Photovoltaikanlage auf dem Dach und eine Batterie im Keller; bald seien ja alle autark von den grossen Kraftwerken und gar vom Stromnetz selbst (S.6: "Ein Pumpspeicher in den Alpen nützt uns als Betreibern des Verteilnetzes im Kanton Zürich nichts"). Die frivolen Behauptungen (S.3: "Alles Böse kommt vom Netz") lassen jeden Realitätsbezug vermissen. Vergessen geht, dass auch die Photovoltaikanlage auf dem Dach ohne staatliche Subventionen nicht rentieren würde. Nur beiläufig erwähnt wird, dass die Batterie im Keller heute volkswirtschaftlicher Unsinn ist, weil die Haushalte vollständige Autarkie noch auf absehbare Zeit nicht erreichen, also weiterhin einen teuren Netzanschluss in Anspruch nehmen. Einen Netzanschluss nota bene, den aufgrund einer Quersubventionierung der Eigenverbraucher vor allem andere Konsumenten bezahlen. So zeigt sich einmal mehr: Hehre Ziele lassen sich viel besser propagieren, wenn sie von jemand anders finanziert werden müssen. Das leichtfertige Schulterzucken, mit dem die NZZ am Sonntag nun aber die regulatorische Entwertung der bestehenden, wichtigen Elektrizitätsinfrastrukturen zur Kenntnis nimmt, lässt bei einem Qualitätsblatt dennoch erstaunen.
Der Ständerat hat die Gefahr für die Wasserkraft erkannt. Seine Antwort ist freilich, dem aufgrund von Subventionen hochgradig verzerrten Wettbewerb in diesem "Markt" mit nocheinmal mehr Subventionen für die Grosswasserkraft zu begegnen. Wie in vielen anderen Bereichen glaubt das Parlament, eine funktionsunfähige Regulierung mit noch mehr Regulierung korrigieren zu können. Ein Teufelskreis entsteht, der die Regulierung immer dichter und komplexer macht, Wettbewerbs- und Innovationsprozesse nach und nach ausschaltet sowie Gewinne nicht mehr aufgrund überlegener Leistung, sondern aufgrund gelungener Regulierungsarbitrage und Lobbying entstehen lässt. Vielleicht wird das neu gewählte Parlament den Mut haben, sich nochmals in ganz grundsätzlicher Art und Weise - also nüchtern, ideologiefrei und auf Basis des derzeit technisch Machbaren - damit zu befassen, wie eine nachhaltige Energiezukunft am Besten erreicht werden kann.
St.Gallen, 9. Oktober 2015